Der Friedensnobelpreisträger zog beim Internationalen Kongress Achtsamkeit die 1700 Zuhörer im Audimax der Uni Hamburg in seinen Bann.

Hamburg. Gleich zu Beginn die erste Überraschung. Irgendeiner oben links im Rang muss es gespürt haben: Kaum hat jener Gast seinen Applaus wie aus dem Nichts gestartet und die anderen im ausverkauften Audimax der Universität mitgerissen, öffnet sich tatsächlich die Hintertür. Begleitet von weiteren Würdenträgern, betritt der Dalai Lama den Hörsaal. Er bleibt stehen, verneigt sich, schiebt beide Handflächen aufeinander, verneigt sich erneut. Seine Korona macht Platz für die Hauptperson, verbeugt sich gleichfalls, klatscht Beifall.

Es folgt Überraschung zwei. Der von allen Seiten Umjubelte blickt keineswegs staatsmännisch oder gar majestätisch, sondern offenherzig und fröhlich. Dieser Mann, seines Zeichens Oberhaupt des tibetanischen Buddhismus, Friedensnobelpreisträger und Weiser von weltweitem Ruf, hat Freude an diesem Sonntagmittag in Hamburg, das ist deutlich zu erkennen - nicht nur für Buddhisten. Der Dalai Lama tritt an den mit einem Dutzend Orchideen geschmückten Bühnenrand, begrüßt ein Mädchen, verneigt sich erneut vor dem Publikum und nimmt sodann auf einem schwarzen Sofa Platz.

Überraschung drei folgt auf dem Fuße - im wahrsten Sinn des Wortes. Während das Publikum weiter heftig applaudiert und ein Professor die offizielle Begrüßung vornimmt, nestelt der 76-Jährige ganz ungeniert an seinen braunen Schuhen, zieht diese aus, lässt die roten Strümpfe sehen und nimmt im Schneidersitz auf dem Sofa Platz. Absolute Stille, gespannte Erwartung. Es kann losgehen. Die 1700 Plätze im Audimax sind seit Monaten ausverkauft; der viertägige Internationale Kongress Achtsamkeit erlebt seinen Höhepunkt.

Bestens gelaunt, ohne Manuskript, quasi aus dem Bauch heraus, startet der Dalai Lama seinen Vortrag. Auf Englisch. Er wird simultan übersetzt, doch das Gros der Gäste lauscht seinen Worten ohne Kopfhörer. "Ein ausgeglichener Geist ist auch für die Gesundheit wichtig", sagt er. Und der Achtsamkeit komme eine immer bedeutendere Rolle zu. Sie könne geübt werden. Man müsse es nur wollen.

Diese Botschaft würde einem wohl auch der gesunde Menschenverstand bescheren, doch es ist neben dem Inhalt die Art der Darbietung, die zum Nachdenken anregt. Viele im Plenum kennen die Auffassung des geistlichen Oberhauptes, doch nun, aus seinem Munde, wirken die Erkenntnisse authentischer und glaubhafter denn je. Der Mann ist Profi, doch ist bei ihm Routine nicht gleich Langeweile. Im Gegenteil. Unabhängig von der Religion müssten menschliche Werte gefördert werden: "Dabei liegt der Hauptfaktor in uns selbst." Da eine Religion nicht alle Menschen erreichen könne, sei Vielfalt wichtig. Es folgt ein Plädoyer für Respekt Nichtgläubigen gegenüber; denn auch diese seien wichtig für Harmonie und Ausgleich auf der Erde. Weiterhin dreht sich die Ansprache um Freundlichkeit im Alltag und um Probleme der Finanzkrise. Es sei wichtig, dass bedeutende Demokratien wie die USA und Deutschland die wirtschaftliche Talfahrt überwinden. Das System dürfe nicht scheitern.

Der Dalai Lama nimmt die Brille von der Nase, nestelt nach einem Papiertaschentuch, tupft sich das Gesicht. Und dann lacht er wieder. Dieses markante Lachen zieht sich durch den gesamten Vortrag. Es steckt an. Unverändert allerbester Dinge, fordert der Buddhist, im Bildungssystem mehr auf "ethische Werte" zu setzen. Dies sage er nicht als religiöses Leitbild, sondern als einer von sieben Milliarden Menschen. Und als dieser stellte er klar: "Wenn alle Menschen ein warmes Herz hätten, könnte Gott wirklich die Hölle schließen." Und wieder dieses mitreißende, fast kindliche Lachen. Wohl dem, der selbstbewusst genug ist, sich so zu präsentieren und auf Attitüde zu verzichten. "Ich lege Ihnen ans Herz, sich mehr um die inneren Werte zu kümmern." Intensiver Applaus. Die Schuhe sind wieder angezogen.

Draußen stärken sich die Besucher nach mehr als zwei Stunden geistiger Auseinandersetzung mit weltlicher Kost. An einem Verkaufsstand offeriert Govinda Mango-Lassi; nebenan werden Thai-Curry oder "Vegi-Gulasch" verkauft. Demonstranten schwenken ein Spruchband und verweisen auf angebliche "Gräuel des Buddhismus". Viel Beachtung finden sie nicht.

"Der Dalai Lama gibt Antworten, ohne dass Fragen gestellt werden", bringt Oli Simon, Künstler aus Altona, die Meinung vieler Zuhörer auf den Punkt. Er fühle sich auf gutem Wege, sein ethisches Fundament durch Beobachtung des eigenen Innern zu stabilisieren. Dadurch könne er mehr Mitgefühl und mehr Verständnis aufbringen - innerlich wie äußerlich. "Die Worte des Dalai Lama berühren und inspirieren mich, weiterzugehen", meint Monika Beck, angehende Erziehungswissenschaftlerin aus Barmbek. Ein Ziel sei es, den "Autopiloten" alltäglicher Fremdbestimmung abzuschalten und die Steuerung des Lebens selbst in die Hand zu nehmen. Wahrscheinlich hatte sie des Gastredners Schlusswort noch im Ohr: "Die Verantwortung liegt auf der Schulter jedes Einzelnen."

"Ich will präsent und offen im Hier und Jetzt sein", ergänzte Daniela Mieritz entsprechend. Die Mitarbeiterin des Tibetischen Zentrums Hamburg, dem Kongressveranstalter, möchte "nicht oberflächlich existieren, sondern ein offenes Ohr und großes Herz für andere haben". Nicht nur bei ihr war die Botschaft des am Morgen aus Finnland angereisten Dalai Lama angekommen. Morgen spricht der Friedensnobelpreisträger im Hessischen Landtag. Mit seinem fröhlichen Wesen und seiner Aura hatte der Geistliche am Sonntagvormittag bereits die Besucher einer Pressekonferenz im Hotel Grand Elysée beeindruckt.

Anhänger von überall her stehen nachmittags an der Moorweide und auf dem Campus Spalier, um Autogramme, Fotos, einen Handschlag oder zumindest einen Blick zu ergattern. So oder so kommt jeder auf seine Kosten. Insgesamt dominieren die Farben Gelb, Orange und Purpur. Ein junges Paar lässt sein Baby segnen. Die Eltern hatten Safranwasser in ein Opferschälchen gefüllt. Der Dalai Lama nimmt sich Zeit. Er ist so frei.

Das wiederum überraschte nicht.