Für Peter Ulrich Meyer ist das Schreiben die Fähigkeit, ein Universum der Geschichten, des Wissens und der Träume zu erobern. Er hofft, dass Schüler an dem von Hand geschriebenen Satz Freude haben

Hamburg. Sie hieß Lore Seeck. Fräulein Seeck, darauf legte sie Wert. Sie war meine erste Lehrerin und hat mir Lesen und Schreiben beigebracht. Ich erinnere mich an endlose Reihen zunächst mehr gemalter als geschriebener Buchstaben, an das anfangs kräftige und später immer blassere Blau meines Füllers auf dem weißen Linienpapier.

Heutige Hirnforscher hätten ihre Freude an uns gehabt, weil wir mit unseren Bögen und Schwüngen, mit denen wir die vielen Lettern aufs Blatt brachten, gleich beide Hirnhälften trainierten. Tatsächlich sind Üben und Wiederholen ein wesentlicher Erfolgsfaktor beim Schreibenlernen. Wir sind es gewohnt, kulturelle Aneignungsprozesse auch von ihrem möglichen Scheitern her zu betrachten. Wer zu Hause nicht Deutsch spricht, wer erst vor Kurzem hierher eingewandert oder geflüchtet ist, hat es schwieriger, schreiben zu lernen. Längst haben aber auch Kinder, deren Muttersprache Deutsch ist, zunehmend Probleme, zu schreiben und erst recht richtig zu schreiben.

Unsere hoch entwickelte Gesellschaft muss immer noch mit dem Makel leben, dass nach einer Studie der Universität Hamburg vier Prozent der Erwachsenen komplette Analphabeten sind. Weitere 14 Prozent können einzelne Buchstaben und Wörter entziffern, haben aber Probleme mit dem Sinnzusammenhang.

Doch die Mühsal des Anfangs kann den Blick auf eines nicht verstellen: Das Lesen- und Schreibenlernen bleibt das schönste Versprechen, das die Schule Kindern geben kann. Lesen und Schreiben als dessen aktives Pendant schließen eine Welt auf, ach was, ein Universum der Geschichten, des Wissens, der Fantasie und der Träume. Wenn das Lesen nach dem Sprechen, dem Sich-verständlich-machen-Können die zweite Dimension des Zivilisationsprozesses ist, dann ist das Schreiben die dritte Dimension. Buchstaben, Wörter und Sätze zu Papier zu bringen ist ein kreativer, eben höchst subjektiver Prozess. Wo sonst produziert man für alle verständlich (wenn die Schrift denn lesbar ist) und doch zugleich individuell? In der bildenden Kunst ist das zum Beispiel der Fall, wobei deren Universalität über jede Sprachgrenze hinausgeht.

Wissenschaftler früherer Generationen haben die Entwicklung einer eigenen Schrift als zentrales Element für die Herausbildung einer Hochkultur definiert. Vermutlich zu Recht. Tatsächlich sind große Nationalbibliotheken auch heute so etwas wie das Gedächtnis eines Landes, eines Volkes. Vielleicht ist die Bedeutung der Schrift, des Schreibens für den Einzelnen aber noch größer als für die Gesellschaft. Wer schreibt, nimmt teil - in einem umfassenden Sinn. Wir, die schreibende und lesende Mehrheit, begreifen das vielleicht als nichts Besonderes, weil es für uns längst alltäglich geworden ist. Deutlich wird die Tragweite dieses gesellschaftlichen Prozesses aber einmal mehr an denjenigen, die als Analphabeten von schriftlicher Kommunikation ausgeschlossen sind.

Im Erlernen von Lesen und Schreiben liegt eine große emanzipatorische, Grenzen überwindende Kraft. Wer aus einem sogenannten bildungsfernen Haushalt stammt, dem kann mit Schrift und Wort der Ausbruch aus der Begrenzung gelingen. So wie die Erfindung des Buchdrucks Lesen und Schreiben aus dem Stand der Geheimwissenschaft für wenige herausgeführt hat, hat erst das für alle erschwingliche Buch das Lesen durchgehend demokratisiert. Trotz aktueller Einbrüche werden mehr Bücher gedruckt als je zuvor (hoffentlich werden sie auch wirklich gelesen). Wir kommunizieren mehr denn je - nicht nur per Telefon, auch schriftlich per E-Mail, SMS oder sonst wie. Das gedruckte Wort hat also durchaus Konjunktur. Aber das von Hand geschriebene Wort ist auf dem Rückzug. Wenn ich diesen Text schreibe, dann drücke ich auf die Buchstaben meiner Tastatur. Das Schriftbild ist uniform.

Bedeutet uns der Schatz der von Hand geschriebenen Sprache noch etwas? Man muss nicht gleich in Kulturpessimismus verfallen, wenn man prognostiziert, dass die durchgreifende Digitalisierung unserer Lebenswelt uns immer weiter von der Handschrift entwöhnen wird. "Old school", sagt ein deutlich jüngerer Kollege, wenn er etwas per Hand aufschreibt. Mag sein. Es gibt Menschen, die alle Notizen sofort in ihr iPad eingeben. In meiner Schulzeit war Schönschreiben ein eigenes Fach, das benotet wurde. Vielleicht ist es nur eine Deformation, die sich aus dem Beruf des Journalisten ergibt: Heute kann ich meine Handschrift bisweilen selbst nicht mehr entziffern. Aber ich schreibe trotzdem weiter.

Wichtiger als der etwas kleinliche Streit darüber, ob Kinder über Druck- oder geschwungene Schreibschrift diese Kulturtechnik erlernen, ist doch dies: dass die Schüler Freude am von Hand geschriebenen Satz finden, dass sie sich diese Freiheit des Wortes erschließen.

Die Geschichte mit meiner Grundschullehrerin ging noch weiter: Als aus den Buchstaben längst Wörter geworden waren, gegen Ende der zweiten Klasse, heiratete Fräulein Seeck und hieß fortan Frau Möller. Uns gewährte sie eine Karenzzeit zur Umstellung auf ihren neuen Namen. Aber nach den Sommerferien, so verkündete sie streng, durften wir nur noch Frau Möller zu ihr sagen. Mein Freund Rainer verpasste die Zeichen der Zeit und kassierte für die Anrede "Fräulein Seeck" prompt eine Ohrfeige. Das war eine ziemlich rabiate Lektion über Macht und Bedeutung der Worte - und deren Schönheit eher abträglich..