Wie eine ausgeklügelte Vermarktungsstrategie sogar unsere Sprache und unser Bewusstsein verändern kann

Bis vor wenigen Tagen wussten Sie nicht, was ich mit "Schoßgebet" meinen könnte. Es hätte ein überraschender Druckfehler sein können. Jetzt aber wissen Sie, was ich meine. Ihre Sprache und damit Ihr Bewusstsein haben sich verändert. Die Marketingstrategie des Verlags war erfolgreich. Ich selber werde zu einem Teil dieser Werbemaßnahme, wenn ich darüber schreibe. Erwarten Sie beim Weiterlesen keine Enthüllungen über das Buch oder die Autorin Charlotte Roche. Worum geht es also? Allein um die Vermarktungsstrategie.

Man verbindet schnell mit Werbung, dass sie nur negative Auswirkungen haben kann. So einfach ist es nicht. Sie und ich haben gelernt, dass es ein neues Produkt gibt, das gewisse Eigenschaften zu haben scheint und das wir vielleicht erwerben wollen. Ohne diese Kenntnis hätten wir diese neue Handlungsoption nicht. Das aber reicht den Werbestrategen nicht. Dieses Produkt muss sich von anderen Produkten (Büchern) abheben. Es muss ein Bedürfnis geweckt werden, es besitzen zu wollen, und vielleicht ein sozialer Druck erzeugt werden, dass eigentlich jeder dieses Produkt haben muss. Ich lasse mich mit diesem Beitrag nur deshalb zu einem Teil der Werbemaßnahmen machen, weil ich auf die Zusatzeffekte, die die Freiheit wieder einschränken, aufmerksam machen möchte.

Wenn man diese erstaunlich intensive und zeitlich höchst präzise geplante Werbestrategie sich anschaut, ist man verblüfft, wie es möglich ist, die Printmedien dazu zu bringen, in fast identischer Weise so ähnliche Beiträge zu veröffentlichen: werbestrategisch ausgeklügelte Berichte über die Autorin. In der Werbebranche gilt der Spruch "Sex sells", aber das reicht nicht aus, denn pornografische Schilderungen in Büchern sind viel zu häufig. Es muss etwas werbestrategisch Wichtiges hinzukommen.

Generell neigen Menschen dazu, von einer Handlung, hier dem Buch, auf die Persönlichkeit des Handelnden, die Autorin, zu schließen. Das gilt auch bei Sachbüchern, wie wir bei Sarrazin erleben konnten. Werbestrategen kennen diesen Mechanismus und haben ihn hier gezielt eingesetzt. Die öffentliche Darstellung der unangepassten Persönlichkeit der Autorin lässt darauf schließen, dass das Buch abweichendes Verhalten beschreibt. Ja, man bekommt als Leser sogar Autobiografisches als Blick durch das Schlüsselloch geliefert. Man wird neugierig gemacht. Dieses Ungewöhnliche ist nicht nur Fiktion. Mit dieser vermeintlichen Realitätsnähe gewinnt das Produkt eine Qualität, die andere Bücher mit gleichem Inhalt nicht haben. Werbestrategisch ist dieses Buch hervorragend konzipiert. Es gibt biografische Einschübe, die Protagonistin ist im Alter der Autorin. Diese Zusatzmotivation zum Kauf entsteht im Kopf des Kunden, weil die Werbung darauf abzielt. Die Autorin selber ist ein wesentliches Moment der Werbung.

Neben der abweichenden Persönlichkeit der Autorin und der scheinbaren Realitätsbeschreibung haben die Strategen sich einen dritten Einflussfaktor ausgedacht. Sie haben mit einer extrem hohen Startauflage "gedroht". Das kann nur heißen, wenn Sie dieses Buch nicht besitzen, gehören Sie zu den unverbesserlichen Außenseitern. Dieser soziale Druck soll uns zwingen, wenn wir mitreden möchten, zumindest vorzugeben, dieses Buch gelesen zu haben. Hierfür sind auch die Medien verantwortlich. Sie definieren, was wichtig ist, weil sie sich in dieser großen Zahl mit diesem Produkt journalistisch beschäftigt haben. Die Bedeutsamkeit eines Themas erfährt man dadurch, dass alle darüber schreiben oder reden. Bei wichtigen Ereignissen aus dem Weltgeschehen ist das sofort nachvollziehbar. Bei diesem Buch aber wird die Bedeutsamkeit künstlich erzeugt.