Albert Meyer*, 61, wohnt in Blankenese, wo nicht alle reich sind, aber fast niemand arm. Er ist gerne dort, auch wenn er Außenseiter bleibt.

Er komme sich vor wie ein Geist. Er sei anwesend und gehöre doch nicht dazu. Er nennt sich selbst: "einen Unsichtbaren".

Noch am Telefon hatte Albert Meyer* gesagt, er sehe schlecht aus. Es gehe ihm nicht gut. Mehrmals hadert er. Erst möchte er offen über seine Situation reden, dann wieder gar nicht, am Ende nur anonymisiert. "Es ist besser, unter der Oberfläche zu bleiben", sagt er. "Ich möchte nicht auf dem Radar auftauchen." Das Amt soll nicht auf ihn aufmerksam werden. Niemand soll auf ihn aufmerksam werden.

Mit seiner dunklen Esprit-Brille, grauem Dreitagebart, kurzen Haaren und Umhängetasche wirkt er dann wie ein Oberstudienrat - schlau und zurückhaltend, keinesfalls unterprivilegiert. Schwarze Kleidung, dunkelblaues T-Shirt und braune Wanderschuhe verleihen ihm eine Allerweltshülle. Nicht auffallen ist das Leitmotiv des Hartz-IV-Empfängers. Der 61-Jährige wartet am Blankeneser Elbponton. Das sei ein guter Treffpunkt. Am Strandweg gehe er oft spazieren, genieße das Licht, tanke Kraft. Kraft für gleichförmige Tage in einem Milieu, dessen Lebenswirklichkeit ihm fremd ist, weil er sich dieses Leben nicht leisten kann.

Als Arbeitsloser gehört er in Blankenese einer Minderheit an, als Empfänger von Arbeitslosengeld II erst recht. Etwa 50 Hartz-IV-Empfänger leben unter den 13 000 Einwohnern im zweitreichsten Hamburger Stadtteil. Laut Einkommensstatistik verdient hier jeder Erwerbstätige durchschnittlich 94 500 Euro im Jahr. Die Arbeitslosenquote beträgt zwei Prozent. Wohlstand ist zwischen den Boutiquen, Immobiliengeschäften und Cafés allgegenwärtig. Auch wenn der Stadtteil nicht dazu taugt, auf eine Reichenhochburg reduziert zu werden, findet Armut hier kaum statt. Oder, wie es Albert Meyer formuliert: "Ich bin hier unsichtbar."

In dieser Umgebung, die oftmals tatsächlich von Nobelkarossen, Goldknöpfen und Hemden mit eingesticktem Polo-Spieler geprägt ist, muss Albert Meyer mit einer monatlichen Zuweisung von 316 Euro zurechtkommen. Das sei in Blankenese nicht schwieriger als anderswo in Hamburg - auch hier gibt es Lebensmittel-Discounter, immerhin 48 gelistete Sozialwohnungen und Mietobjekte ab 550 Euro. Aber im Gegensatz zu 50 000 Hartz-IV-Empfängern in der Stadt sei er hier eine Ausnahme. Schmucklos im Goldfischglas.

1999 kam Albert Meyer in den Elbvorort. Damals hatte er noch Arbeit, half einer alten Frau bei Haushalt und Garten. Gleich nebenan konnte er in eine kleine Wohnung ziehen. Blankenese wurde zu seinem Zuhause. Reserviert und nüchtern, das passte zu seiner Persönlichkeit. Auch als die Frau zwei Jahre später starb, blieb er. Eine Mischung aus Bequemlichkeit und landschaftlichem Reiz hielt ihn fest. "Die Gegend ist umwerfend schön." Er zog in ein 22-Quadratmeter-Apartment mit Kochnische. Dort wohnt er noch heute ohne Radio und Fernseher.

Der Mann, der von sich sagt, er habe nie bürgerliche Werte wie Familie oder Besitz angestrebt, neidet den Blankenesern ihren Wohlstand nicht. Im Gegenteil: Erst Kapital hätte dieses malerische Fleckchen Erde mit seinen zahlreichen öffentlichen Parks zu dem gemacht, was es heute ist: ein Kleinod. Indes sei es schon ein Unterschied, ob man nur hier wohnt oder tatsächlich dazugehört. Er könne weder Hobbys wie Segeln oder Tennis pflegen noch an der Feinkosttheke mit Gleichgesinnten ins Gespräch kommen. Er werde nicht ignoriert, er muss ignorieren.

Bei schwierigen Fragen knetet er die Hände, als müsse er seine Worte formen. Er ringt mit Sätzen, die ihn Wahrheit kosten. Er könne nun wirklich nicht alles erzählen, weshalb er angestrengt nur das Wesentliche schildert: Wie er 1970 als Pädagogikstudent aus dem Westerwald nach Hamburg kam, im ersten Staatsexamens aufgab, später mit seinem Bruder brach, die Liebe seines Lebens verstreichen ließ und den Halt verlor, weil er auf Rennbahnen und in Wettbüros auf zu großes Risiko gegangen war. "Das ist wohl mein Problem", sagt er. "Meine Interessen."

Seinen "Interessen" geht er auch heute noch nach. Einigermaßen stolz kramt er einen Lottoschein aus der Hosentasche. "Diese Woche habe ich einen Dreier mit Zusatzzahl getroffen." 11 Euro Einsatz -19 Euro Gewinn. "Das ist doch nicht schlecht." Der Gewinn gibt ihm Auftrieb. Das Scheitern wird verdrängt. Ist er ein Suchttyp? "Ja", sagt er zögernd, "Das ist es wohl."

Die Gesellschaft sei nicht schuld. "Ich bin selbst schuld", sagt er. Zu introvertiert, zu unkonventionelle Interessen, nicht fokussiert genug. Seit 2001 ist er arbeitslos. Und natürlich müsse er nicht in Blankenese wohnen. Aber hier sei nun mal sein Zimmer. Und der prächtige Blick vom Süllberg auf die Elbe, der liebliche Strandweg oder die Runde im Hirschpark seien ja kostenlos. "Und einmal im Jahr", sagt er, "schenke ich mir auch ein richtiges Mittagessen im Süllberg-Restaurant." Für einige Momente sei er dann Blankeneser. An seinem Geburtstag.

Vor seiner Zeit im Elbvorort habe er relativ regelmäßig gearbeitet. Er wirkte als Übersetzer oder schlug sich im Hafen mit Gelegenheitsjobs durch. Einmal war er sogar in der Position, eine Festanstellung zu bekommen. "Damals, in den Neunzigern, als der Hafen boomte." Aber es habe nicht geklappt. Auch seinetwegen nicht. Eine verstrichene Chance mehr. Schön sei es trotzdem gewesen. Aber heute, mit 61, ohne Berufsausbildung - sein Zug sei abgefahren.

Aus Scham und weil es andernorts mehr soziale Anlaufstellen gibt, verbringt Albert Meyer relativ wenig Zeit in Blankenese. Einmal im Monat besucht er das "Mit-Dach-Essen", ein Wohltätigkeitsmahl der Kirche. "Ansonsten bin ich hier nicht existent. Wenn ich hier bin, gehe ich spazieren oder sitze zu Hause. Am Leben im Ort nehme ich nicht teil." Zu Hause, in seinem kleinen Appartement, lese er viel. "Krimis oder Thriller." Aber schon das Kochen in der Herdnische sei schwierig. Obst oder Joghurt stehen deshalb oft auf dem Speiseplan. Isoliert sei er nicht, jedenfalls nicht in Hamburg. Seine wenigen Sozialkontakte pflege er aber in anderen Stadtteilen.

So liest er nahezu täglich die kostenlos ausliegende englische und deutsche Presse in der Zentralbibliothek der Wirtschaftswissenschaften am Jungfernstieg. ",Newsweek', ,Süddeutsche Zeitung', das Abendblatt - das hat mich schon immer interessiert." An der Eimsbütteler Bundesstraße, im Diakonie-Zentrum für Wohnungslose, geht er für wenig Geld essen oder spielt mit Gleichgesinnten Karten. Hin und wieder, wenn das Geld reicht, mischt er sich auch unter das Volk auf der Reeperbahn. "Dann tauche ich in die Gesellschaft ein, bestelle mir für 2,80 Euro ein Bier und schaue Fußball." Meistens läuft im Hintergrund eine Wette. Nicht selten liegt er daneben - und ist im letzten Drittel des Monats blank. Albert Meyer wirkt sehr beherrscht, wenn er von Schulden und Alltag erzählt. Beherrschung, die er beim Wetten verliert. "Als guter Beobachter kann man das Risiko minimieren", sagt er mit dem Versuch eines Lächelns. Er raucht nicht, trinkt nicht - er spielt.

Gern würde er in Blankenese bleiben. Aber gerade habe ihm sein Vermieter gekündigt. Albert Meyer möchte nicht sagen, warum. Nur, dass er bald umziehen und Abschied nehmen muss. Doch er will zurückkommen. Als Tourist. Und Unsichtbarer.

*) Name geändert