Zur Politik gehören auch klare Worte und symbolische Gesten. Sonst bleibt eine wichtige Chance auf Zustimmung ungenutzt

Als der Berliner Bürgermeister Ernst Reuter am 9. September 1948 vor die Ruine des Reichstags trat, hatte er nur einen Zettel mit ungeordneten Stichwörtern in der Hand. "Ihr Völker der Welt, schaut auf diese Stadt", begann er seine Rede vor 300 000 Zuhörern, diese Rede machte Reuter zu einem politischen Weltstar seiner Zeit.

Die Kraft des Wortes trieb auch in den folgenden Jahrzehnten den Aufbau der deutschen Demokratie voran. Die Minister Erhard und Schiller erklärten Wirtschaftspolitik so, dass sie jeder verstand. Schmidt und Strauß lieferten sich mitreißende Rededuelle. Die Kanzler Brandt ("mehr Demokratie wagen") und Kohl ("blühende Landschaften") setzten auf einprägsame Begriffe und bei der europäischen Versöhnung auf große Gesten. Der eine kniete in Polen nieder, der andere hielt den französischen Präsidenten an der Hand.

Und heute? In Deutschland regiert eine Kanzlerin, die zwar handelt, aber nicht spricht. Natürlich, Angela Merkel gibt Interviews, nimmt Stellung, redet im Bundestag. Aber ihre Sprache ist zurückgenommen und sachlich, sie packt niemanden, sie weckt keine Emotionen und aktiviert keine Überzeugungen. Politische Leidenschaft - das ist es, was ihre Kritiker, aber auch viele ihrer Anhänger an Merkel vermissen.

Gleich auf zwei Feldern wird eine große Rede Merkels sehnlichst erwünscht. In der Europa-Politik, wo etwa die neue saarländische Ministerpräsidentin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) endlich wieder vermittelt bekommen möchte, dass es neben den "technokratischen Fragen" auch "einen emotionalen Überbau" gibt. Anlass für die Kanzlerin, die Deutschen trotz aller Krisen für Europa zu begeistern, könnte die Bundestags-Abstimmung über das jüngste Euro-Rettungspaket im September sein.

Im September starten auch die sechs CDU-Regionalkonferenzen, auf denen die verunsicherte Partei von ihrer Vorsitzenden all die Richtungswechsel der letzten Monate erklärt bekommen möchte, von der Aussetzung der Wehrpflicht bis zur Stilllegung der Atomkraftwerke. "Politik hat die Selbstverpflichtung, zu erklären, was man tut", mahnt CDU-Vorstandsmitglied Mike Mohring, einer von vielen.

Politik machen durch große Worte und große Gesten - das ist heutzutage zweifellos schwerer als vor Jahrzehnten. Die Entwicklung der Medien, die Komplexität der Themen, da bleibt weniger Raum für Grundsätzliches. Und wenn sich die europäischen Spitzenpolitiker bei ihren Gipfeln mit Küsschen hier und Küsschen da begrüßen, da stünden Brandt und Kohl betreten daneben.

Merkels Abneigung gegen Pathos und Gefühlsaufwallungen hat durchaus etwas Sympathisches. Und kluges Handeln ist in der Politik sicher wichtiger als geschliffenes Formulieren. Wie schal wirken auf einmal die Auftritte des begnadeten Redners Barack Obama, seitdem sie nicht mehr zur trostlosen US-Finanzpolitik passen. Ein guter Redner ist noch lange kein guter Politiker. Aber ein guter Politiker ist erst wirklich dann komplett, wenn er auch reden kann.

Merkel erinnert in ihrer mangelnden Fähigkeit beziehungsweise mangelnden Bereitschaft, große Entscheidungen auch mit großen Worten zu erklären, an ihren Vorgänger Gerhard Schröder. Dessen sozialpolitische Reformen, zusammengefasst in dem blutleeren Begriff "Agenda 2010", sind ein wichtiger Grund dafür, dass Deutschland im Jahr 2011 in Europa so gut dasteht. Aber Schröder schaffte es nicht, seiner Partei SPD die Notwendigkeit dieser Reformen begreiflich zu machen. Das führte mit zu seinem Ende als Bundeskanzler.

Schröders Schicksal vor Augen sollte sich Angela Merkel in den kommenden Wochen einen Ruck geben und sowohl beim Thema Europa als auch in der CDU-Richtungsdiskussion aus sich herausgehen.

Wenn sie davon überzeugt ist, dass die CDU sich in der politischen Mitte öffnen muss, weil die alten Stammwähler nicht mehr ausreichen - dann soll sie es doch sagen! Wenn sie davon überzeugt ist, dass Deutschland für schwache EU-Länder zahlen muss, um das geeinigte Europa zu bewahren - dann soll sie es doch sagen! Sie muss Kritik riskieren, um sich die Chance zur Zustimmung zu eröffnen.