Eine Glosse von Tom R. Schulz

Neulich waren wir essen, meine Frau und ich. Ihr Hauptgang bestand aus Kichererbsenpolenta und Linsen an irgendwas, ich habe den Rest des Gerichts vergessen. Dafür werden mir ihre Polenta und Linsen in Erinnerung bleiben. Denn wie Frauen beim Essen so sind, sie schieben mit Messer und Gabel ausdauernd Speisenteile hierhin und dorthin, während sie das tun, was sie beim Essen noch viel lieber tun als essen, nämlich reden. Ich war ganz Ohr, aber beim Blick auf Hannas Teller traute ich plötzlich meinen Augen nicht. Was war das? Die Polenta hatte sie mit lockerer Hand zu einem Quader geschichtet, der an den geschwungenen Oberkanten ausfranste. An den Seiten klebten verstreut viele Linsen. Das Gebilde besaß schlagende Ähnlichkeit mit der Elbphilharmonie. Meine Frau! Entwirft beim Abendessen mal eben einen Jahrhundertbau.

Na gut, was ihr da gelang, war sozusagen Deduktionsarchitektur aus Versehen. Die Elbphilharmonie gibt es ja schon, zumindest kann man sie sehen. Aber was, wenn die Architekten selbst ihre Bauten so entwerfen? Schob Gustave Eiffel eines Freitags nach dem Essen im Familienkreis ein paar Fischgerippe aneinander und erfand so den Eiffelturm? Verdanken sich Frank Gehrys geschwungene Bänder letztlich versonnenem Spiel mit Fettucine? Entstand die Akropolis, weil Baumeister Phidias beim dritten Ouzo ausprobierte, wie viele Grissini man braucht, um darauf ein saftiges Stifado abzulegen? Wenn rauskommt, dass neben der Liebe auch die Baukunst durch den Magen geht, muss die Geschichte der Architektur neu geschrieben werden.