Die aktuelle Euro-Krise darf unser gemeinsames Projekt von Freiheit, Demokratie und Versöhnung nicht gefährden

Die Schreckensmeldungen reißen nicht ab: zuerst Griechenland, dann Irland und Portugal, schließlich Italien. Ein EU-Land nach dem anderen wird von den Teilnehmern der Finanzmärkte als wenig vertrauenswürdig eingeschätzt. Hastig werden seitens der Politik Hilfspakete geschnürt, die schon nach wenigen Wochen nicht ausreichen. Die betroffenen Länder wiederum verlieren einen Teil ihrer Souveränität, müssen sie doch den Forderungen von Europäischer Union, Internationalem Währungsfonds und den Marktteilnehmern nachkommen. Die Geschwindigkeit der Abläufe ist hoch. Die Komplexität und Tragweite der zu klärenden Fragen gewaltig.

Klar ist: Bei den momentanen Ereignissen handelt es sich um wesentlich mehr als um den Versuch, kurzfristige finanzielle Engpässe zu überwinden. Die entschiedenen Proteste der Bürgerinnen und Bürger in Griechenland gegen einen rigiden Sparkurs machen deutlich, dass auf vielen Gebieten große Umbrüche auf die Menschen zukommen. Aber auch die zahlreichen Wortmeldungen von Politikern, Wirtschaftsfachleuten und Wissenschaftlern weisen unmissverständlich darauf hin: Nicht nur die Währungsunion steckt in der Krise, sondern Europa als Ganzes.

Wenn weite Teile der Bevölkerung nicht den Eindruck haben, dass die von ihnen gewählten Parlamentarier noch das Heft in der Hand halten, dann nährt dies Verdrossenheit. Populistische und nationalistische Stimmen haben es in einer solchen Situation leicht, Ressentiments zu schüren.

Es besteht die Gefahr, dass die derzeitige Krise nicht nur sehr viel Geld kostet, sondern auch die "Idee Europa" nachhaltig beschädigt. Europa steht für viel mehr als Euro und Schuldenkrise. Europa steht auch für viel mehr als die Europäische Union. Europa steht für eine Hoffnung, die seit 60 Jahren eine Generation an die nächste weitergibt. Eine Hoffnung auf Frieden und Völkerverständigung. Eine Hoffnung auf Freiheit und Gerechtigkeit. Eine Hoffnung auf mehr als erfolgreiche Tagespolitik.

Das Europa, wie wir es heute kennen, wurde geboren aus den Schrecken und Trümmern des Zweiten Weltkrieges. Nationalistische Ideologien und Feindschaften hatten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Millionen Menschen das Leben gekostet. Daraus erwuchs immer mehr die Einsicht: So etwas darf in Europa nicht mehr geschehen. Als sich 1999 in Rom Bischöfe aus allen europäischen Staaten zu einer Synode versammelten, konnten diese sagen: "Mit Freude stellen wir die zunehmende Öffnung der Völker aufeinanderhin fest, die Versöhnung zwischen Nationen, die lange Zeit verfeindet waren. Es wachsen Zusammenarbeit und Austausch aller Art, sodass nach und nach eine europäische Kultur, ja ein europäisches Bewusstsein entsteht, das hoffentlich das Gefühl der Brüderlichkeit und den Willen zum Teilen wachsen lässt."

Und heute? Die "Freude" am europäischen Einigungsprozess scheint einer Nüchternheit, wenn nicht sogar einer Resignation gewichen zu sein. War es schon vor der Krise schwierig, die Bürgerinnen und Bürger für den Wert der europäischen Zusammenarbeit zu gewinnen - die stetig sinkende Beteiligung an den Wahlen zum Europäischen Parlament spricht eine deutliche Sprache - so wird dies in Zukunft noch schwerer sein. Daran sind Politiker in Berlin, Athen, Brüssel und anderswo nicht unschuldig, wenn sie kurzfristige Interessen der langfristigen Vision vorziehen.

Gegen diese Stimmung gilt es anzugehen. Denn: Europa lohnt sich. Ich meine damit nicht vorrangig die Hilfsgelder, die viele Fortschritte zwischen Lissabon und Turku auf den Weg gebracht haben. Ich meine damit vielmehr die Hoffnung, die Menschen aus verschiedenen Nationen dazu bewegt, sich gemeinsam für ein Projekt der Freiheit, der Demokratie und der Versöhnung einzusetzen.

Seit über einem halben Jahrhundert arbeiten unzählige Frauen und Männer an diesem Projekt. Die europäische Einigung macht auf beeindruckende Weise deutlich, dass politisches Handeln etwas von großem Wert schaffen kann, wenn es von einer weitergehenden Hoffnung und Vision angeleitet wird. Diese Hoffnung und Vision dürfen wir angesichts der derzeitigen Krise nicht aus den Augen verlieren.