Briefträger Jochen Engel erklimmt täglich das Treppenviertel. Zeit für einen Tratsch bleibt immer. 90 Prozent seiner Kunden duzt er.

Blankenese. Schon zur Hälfte der Tour hängt das gelb-blaue Poloshirt klitschnass von seinen Schultern. Auf der Stirn perlt der Schweiß und auch die Gesichtsfarbe zeugt von einem angeregten Blutkreislauf. 2700 Stufen liegen bereits hinter Jochen Engel. Ebenso viele hat er noch vor sich. "Aber hey, Treppensteigen hält jung, fit und dynamisch", sagt er. Ein Spruch geht immer - trotz latenter Atemnot.

Seine Kunden im Blankeneser Treppenviertel schätzen die freundlich-joviale Art ihres Postboten. Man ist per Du, grüßt sich, neckt sich, mag sich. Seit 37 Jahren arbeitet der Zusteller auf der vielleicht anspruchsvollsten Postroute der Stadt, dem steilen Gewirr aus 58 Treppen und 4864 Stufen. Engel - im Harz geboren, "in Hamburg eingebürgert" - verteilt seine Sendungen im teilweise alpin aufsteigenden Elbhang an fünf Tagen in der Woche. Die körperliche Anstrengung versüßt er sich durch persönliche Ansprache: "Moin Achim, heute nur Zwieback zum Frühstück?", ruft er. Und dann darf sich auch Achims Frau etwas anhören: "Du muss ihm mal mehr zu Essen geben", sagt Engel. Drei Häuser später heißt es: "Hallo Uwe! Grüß Elke!" So läuft das die ganze Zeit.

Klatsch und Tratsch? Erfährt man von Engel aus erster Hand. Einen Schnack zwischendurch? Erledigt der Postbote im Vorbeigehen. "Denn es ist ja nicht so, dass du dir als Zusteller die Schuhe beim Gehen besohlen lassen kannst." Früher, als die Blankeneser Hauptstraße noch von Lokalen gesäumt wurde, sei dafür mehr Zeit gewesen. Aber da waren auch die Touren kleiner. Vier Postboten seien damals die Hänge mit Zugkarre und Ledertasche hinaufgeklettert. Heute arbeiten nur noch zwei Zusteller das hügelige Geläuf ab, sagt der 59-Jährige. Während sein Kollege den Süllberg zum Revier hat, stellt er im östlichen Teil des ehemaligen Fischerdörfchens zu.

Und obwohl Engels erster Arbeitstag im Treppenviertel das nackte Grauen war ("Ich musste nach dem Weg fragen und war erst gegen 18 Uhr fertig"), wollte er sein Revier nie wieder wechseln. Das dauernde Auf und Ab möge anstrengend wirken, "aber die Menschen hier, das ist schon einmalig". Klar habe man hier auch Kunden mit Geld. "Aber die lassen es nicht raushängen. Und vor allem lassen sie es dich nicht spüren", sagt Engel, der unter anderem die Briefkästen von Ex-"Spiegel"-Chefredakteur Stefan Aust, Theatermacher Jürgen Flimm oder Gelbe-Seiten-Verleger Christoph Dumrath ansteuert.

Engel kennt hier jedes Haus, darf auf Terrassen, die sonst verschlossen sind, und hat sogar Streicheleinheiten für ein Rudel Meerschweinchen über, die täglich auf einem verwunschenen Hinterhof ihn warten. Nicht selten wird er wegen seiner Ortskenntnis als menschliches Navigationsgerät gebraucht: Ein BMW-Fahrer aus Nordrhein-Westfalen möchte etwa wissen, wo Otto Waalkes wohnt. Und Engel antwortet fremdenführertauglich: "Da hinten, am Süllberg. Aber der ist sowieso nicht da, sie brauchen gar nicht erst klingeln."

Im Sommer, wenn die Touristenmassen kommen, wird Engel fast täglich um Rat gebeten. Und obwohl sich an heißen Tagen die Luft in den engen Gassen staut und bis zu 40 Grad warm wird, sei das die beste Zeit für Briefträger. "Feigenbäume, Libellen und seltene Vögel - das siehst du nur hier", sagt Engel. Denn am unangenehmsten sei die Arbeit im verwinkelt-abschüssigen Labyrinth im Winter, wenn vereiste Wege die Tour zur Schlitterpartie werden lassen. Aber - toi, toi, toi! - der Mann, der seinen Zustellabschnitt in Sandalen absolviert, hatte noch nie gebrochene oder verstauchte Gliedmaßen zu beklagen. "Hier musst du deinen Körper eben im Griff haben", grinst er.

Muskelkater ob der täglichen Berg-und-Tal-Tour spüre Engel nur in den ersten Tagen nach langen Urlauben, die er - im Übrigen völlig steigungslos - im Alten Land verbringt. Ansonsten habe er sich daran gewöhnt, täglich ein wenig aus der Puste zu geraten. Das ist so geblieben, obwohl er sich vor einem Jahr das Rauchen abgewöhnt hat. "Aber auch schon vorher habe ich nie Probleme mit der Distanz gehabt." Im Treppenviertel wohnen? Ja, klar, das wäre schön, doch er fühle sich auch in Eimsbüttel, seinem Wohnstadtteil, ganz wohl. Jedenfalls werde er bei der Arbeit nicht von Sozialneid geplagt. Eher im Gegenteil: "Dass ich 90 Prozent meiner Kunden duze, zeigt doch, dass ich hier angekommen bin."

Bleibt die Frage, warum er täglich 5400 Stufen bewältigen muss, wenn es im gesamten Viertel nur knapp 4900 gibt? "Ich laufe viele Wege doppelt. Erst hinauf, dann wieder hinab", sagt Engel. Denn eine physisschonende Route durch das Treppengewirr gebe es nicht. Schon gar nicht, wenn bedrohlich klingende Straßen wie Steiler Weg oder Grube zu seinem Revier gehören.

Vielleicht ist das der Grund, warum er darauf verzichtet, am Ende seiner Tour den Berg wieder hinaufzusteigen. Nach 5400 Stufen erklärt Jochen Engel zwei betagteren Damen noch geduldig den Weg zum Cafégarten Schuldt auf dem Süllberg. Dann verabschiedet er sich in Höhe Krögers Treppe, steigt in den kleinen Bus, der hier "Bergziege" heißt - und lässt sich zur Abwechslung mal chauffieren.