Mit ihrer 22 Monate alten Tochter Carlotta besuchte unsere Autorin den Sommerdom in Hamburg - und fand auf dem Rummel erstaunlich viel Ruhe.

St. Pauli. Kleine Füße trippeln über den Asphalt. Tapsen. Trödeln. Bleiben stehen. Schlendern weiter. Stoppen. Schleichen vorwärts. Gemütlich, gemächlich. Im Schneckentempo.

Es ist die Entdeckung der Langsamkeit - der erste Dombesuch mit Kleinkind. Während rund herum die Lichter immer schneller aufblitzen und die Achterbahn mit 80 Kilometern pro Stunde über die Schienen schnellt, erlebt man selbst alles wie in Zeitlupe. Die Welt dreht sich, doch man selbst scheint sich nicht vom Fleck zu bewegen - zumindest, wenn man mit Carlotta (22 Monate) unterwegs ist.

Zeit ist relativ. Was Albert Einstein wusste, weiß Carlotta schon lange. Je weniger Zeit die anderen haben, umso mehr hat sie. Je schneller es gehen soll, umso langsamer wird sie. Vor allem, wenn es so viel zu gucken gibt wie auf dem Dom. "Ausflug", nennt Carlotta diese neue Wunderwelt, die sich plötzlich aufgetan hat. Mit bunten Farben, deren Namen sie noch nicht einmal kennt. Mit Düften, die sie noch nie gerochen hat. Und mit Tausenden von Dingen, die sie noch nie gesehen hat. Losbuden und Luftballonverkäufer, Lebkuchen und Karussells. Ein paar Minuten lang ist Carlotta sprachlos, ja fast regungslos. Dann hält sie nichts mehr. "Runter, runter", bettelt sie und zappelt in ihrem Buggy wie die tanzenden Teenager vor dem Autoscooter. Unser Dombesuch in Zeitlupe beginnt.

Es ist Sonnabend, 16.30 Uhr, und auf dem Heiligengeistfeld sind scheinbar mehr Kinderwagen unterwegs als Autos auf der Straße. Es wird geschoben und gedrängt, beschleunigt, überholt und verbal gehupt: "Platz da, wir wollen durch!" Doch Carlotta wäre nicht Carlotta, wenn sie sich von so etwas Profanem wie der "Buggy-Rushhour" aus der Ruhe bringen lassen würde. Sie hat eine Ameise auf dem Boden entdeckt und hockt sich erst einmal neugierig hin - natürlich mitten auf den Weg. Jetzt heißt es handeln, damit das Kind nicht unter die Räder der heranrollenden Kinderwagenlawine kommt. Ein Hauch von Hektik in der Zeitlupenwelt. Geschafft. Kind gerettet, Stimmung gestorben. Carlotta weint. Da hilft nur eins: Alle pädagogischen Grundsätze über Buggy-Bord werfen und als Trost eine Runde im Mini-Express spendieren. So der Vorsatz. Aus der einen Runde werden schließlich zwei, weil Carlotta so lieb "Biiiiiiiiitte, noch mal!" sagt und uns die Kindereisenbahn mit einer gefühlten Geschwindigkeit von zehn km/h zurück ins Schneckentempo befördert hat. Für die Fahrt hat sich Carlotta übrigens nicht die Lok oder gar die erste Klasse ausgesucht, um die sich viele andere Kinder drängen. Nein, Carlotta steigt lieber in einen unscheinbaren gelben Eisenbahnwagen - den sogenannten Schlafwagen.

Vom Mini-Express bis zum Reit-Salon sind es nur ein paar Meter und wenige Minuten - jedenfalls nach herkömmlichen Maßstäben. Im carlottaschen Zeituniversum dauert es jedoch rund zehnmal so lang, macht dafür aber auch hundertmal so viel Spaß. Weil man im Zeitlupenmodus plötzlich Dinge wahrnimmt, die sonst an einem vorbeirauschen. Wir überlassen den Buggy-Karawanen die Überholspur und parken auf dem Standstreifen. Tauchen ein in Luftballontrauben, bestaunen die Herstellung von Zuckerwatte und belächeln die Hektik der anderen. Zeit und Raum haben an Bedeutung verloren. Es spielt keine Rolle, ob wir den ganzen Dom mit seinen 1600 Metern schaffen - oder nur 160 Meter. Weniger ist mehr - zumindest was die Strecke angeht. Denn ansonsten gilt: mehr, mehr, mehr. Mehr Karussell fahren, mehr Schmalzkuchen naschen und mehr reiten. Das Pony heißt Pepe - und es ist Liebe auf den ersten Blick. Carlotta klammert sich an Pepe fest, wie sonst nur an ihrem Teddy Tom. Nein, hier will sie nie wieder weg, das steht fest. Die Zeit soll stehen bleiben. Tut sie aber nicht, war ja eigentlich auch klar. Was schon Paulchen Panther wusste, muss nun auch Carlotta Carstens erfahren: "Wer hat an der Uhr gedreht, ist es wirklich schon so spät?"

Die Reiteinheit ist kürzer als die Wartezeit vorher. Kleiner Spaß, große Tränen. Da hilft nur eins: ein pädagogisch wertvoller Vortrag. Ich erkläre Carlotta, warum sie jetzt nicht mehr reiten kann und die anderen Kinder doch auch mal dran sein dürfen. Ich bin liebevoll, aber konsequent und sehr stolz auf mich.

Ich habe alles gemacht, wie es in den vielen Ratgeberbüchern empfohlen wird. Leider bekommt Carlotta davon kein Wort mit, weil die ohrenbetäubende Musik der nahe gelegenen Fahrgeschäfte und die penetranten "Gewinne, Gewinne, Gewinne"-Rufe von den Losbuden alles übertönen. Merke: Auf dem Dom scheint nicht nur Zeit relativ zu sein - sondern auch Lautstärke.

Inzwischen ist der Zeitlupenmodus auf Stillstand umgesprungen. Carlotta bewegt sich keinen Zentimeter von Pepe, ihrem neuen Freund, weg. Jetzt hilft nur noch ein Trick: Kind auf die Schultern setzen und sich zum Affen machen - beziehungsweise zum Pferd. Ein bisschen Schnauben, den Kopf schütteln wie ein ungeduldiges Pony und munter losgaloppieren. Von null auf hundert. Zeitraffer statt Zeitlupe.

Stopp am Märchenkarussell. Carlotta möchte zum Abschluss und zur Feier des besonderen Tages auf dem Karussellpferd reiten, klettert dann aber kurz entschlossen doch in den Jeep. Schneller als das Pferd ist das Auto allerdings auch nicht. Wir sind zurück in der Welt der Langsamkeit. Hurra!

Und während gegenüber die neue Achterbahn "Höllenblitz" mit Tempo 80 über die Gleise donnert, denken wir an Sten Nadolny und sein Zitat: "Es gibt Leute, die im Gehen sind. Andere sind im Kommen. Was schnell kommt, ist schnell wieder vorbei", schreibt er in seinem Buch "Die Entdeckung der Langsamkeit".

Uns ist nach diesem Nachmittag auf dem Heiligengeistfeld eines klar geworden: Damit kann der Mann eigentlich nur einen Dombesuch mit Kleinkind gemeint haben.