Vor 50 Jahren schwelte in Berlin die Lunte zum Dritten Weltkrieg. Mit der Mauer entstand ein monströses Bauwerk - und der Frieden wurde gesichert

Verdient ein Bauwerk der Moderne monströs genannt zu werden, dann war es die Mauer in Berlin. Die Menschenleben, die sie kostete, und die Gewalt, die sie verkörperte, haben in konkreter Weise Schuld begründet. Das ist die eine Ebene der Betrachtung. Es gibt eine zweite, abstraktere. Hier verschmilzt Lokalgeschichte mit Weltpolitik. Darin fiel Berlin jahrzehntelang ein einzigartiger Part zu. Auf dieser Ebene erscheint der Mauerbau als kühl kalkulierter Schachzug in einem Poker, dessen Regelwerk selbst der Inbegriff des Monströsen war.

Warum gerade Berlin? Weil das Tauziehen um die Stadt an Zählebigkeit alles übertraf, was sonst zwischen West und Ost in Europa strittig war. Zweimal entbrannten Weltkrisen um die Stadt. Die Sommermonate 1948 und 1961 verzeichnet die Zeitgeschichte als aufreizendes Muskelspiel, als Gestik des Drohens und Einschüchterns, als Nervenkrieg bis dicht an den Schießkrieg. Es waren Lehrstücke sicherheitspolitischer Interessenwahrung zwischen den USA und der Sowjetunion.

In Berlin stand der Führungsanspruch der Blockvormächte auf dem Spiel. Die Bundesrepublik betrachtete ihren verletzlichen Außenposten als Prüfstein der amerikanischen Bindung an Europa. Die USA sahen darin den Kitt zwischen Bonn und der Nato. Beiden galt die westliche Teilstadt als unantastbar. Für die DDR und ihre Schutzmacht hingegen bildete sie den sprichwörtlichen Pfahl im Fleisch - freier, wohlhabender, deshalb anziehend für die Menschen im Sozialismus. Wie dieses Schlupfloch zu stopfen sei war das heimliche Thema der zweiten Berlinkrise.

Ab Juni 1961 bedeuteten sich die Führer der beiden Supermächte unverblümt die Bereitschaft zum Krieg gegeneinander. Drohgebärde folgte auf Drohgebärde. Zwei denkwürdige Fernsehansprachen glichen sich bis in die rhetorischen Figuren. Kennedy am 25. Juli: "Wir wollen den Kampf nicht, aber wir haben schon gekämpft." Chruschtschow am 7. August: "Wir wollen keinen Krieg, aber unser Volk fürchtet sich nicht vor Prüfungen." Wie hätte der amerikanische Präsident reagiert, wäre es, wie von Moskau angedroht, zu einer neuerlichen Berlinblockade gekommen, diesmal einschließlich der Luftwege?

Wir kennen die Antwort nicht, und es ist müßig, darüber zu spekulieren. Jedenfalls setzte die sowjetische Führung die "entmilitarisierte Freie Stadt", das Nahziel ihrer politischen Berlinoffensive seit Herbst 1958, nicht einseitig ins Werk. Stattdessen gab Chruschtschow grünes Licht zum Mauerbau. Er wählte, wie vor ihm Truman in der ersten Berlinkrise, den ungefährlicheren, aber kostspieligeren Ausweg. Denn teuer war auch die Mauer - nicht in Dollar, wie die Luftbrücke, sondern in der gleichfalls knappen Währung internationalen Ansehens.

Beigetragen zum glimpflichen Ausgang der Kraftprobe hat die ebenso klare wie maßvolle Markierung der westlichen Berlinposition. Die drei Kernforderungen Kennedys - westalliierte Anwesenheit, freier Zugang, Lebensfähigkeit - bezogen sich auf Westberlin und seine Bürger, nicht auf Ostberlin und dessen Bewohner. Der Fortbestand der Freizügigkeit in ganz Berlin fand sich nicht darunter.

Massenvernichtungswaffen, sagt die Abschreckungstheorie, sollen von Aggressionen dadurch abschrecken, dass die Wahrscheinlichkeit ihres Einsatzes unkalkulierbar ist und das Ausmaß des möglichen Schadens untragbar. Die beiden Berlinkrisen zeigen anschaulich, wie Abschreckung zu Zeiten der Ost-West-Konfrontation funktionierte: Jede Seite suchte ein Höchstmaß eigener Ziele zu verwirklichen, zugleich bemüht, die Risikobereitschaft des Gegners auszuloten, ohne den Bogen zu überspannen. Am Rande des Abgrunds erwiesen sich die Luftbrücke wie der Mauerbau als Notnägel gegen den Absturz.

Jeder Berliner, der Zeuge dieser dramatischen Vorgänge war, wird es anstößig finden, die beiden Aktionen auch nur in einem Atemzug zu nennen. Menschen mit dem Lebensnötigsten zu versehen und Menschen hinter Stacheldraht einzuschließen, in der Tat, dazwischen liegen Welten. Aber die Politik der Krisenbewältigung im Nuklearzeitalter folgte keinem moralischen Prinzip. Ihr Geschäft war die Suche nach dem rettenden Ausweg zwischen Kapitulation und Katastrophe. Sich die Alternative vorzustellen, wäre schwärzeste Fiktion. Allerdings, so hat der ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger einmal gefragt, ist nicht auch die Verhütung des Krieges ein moralisches Prinzip?