Die “Hamburg-Hymne“ feiert ihren 100. Geburtstag. Volkssänger Jochen Wiegandt sammelt die Spuren des Liedes, an dem viele Autoren mitwirkten.

Es ist das bekannteste plattdeutsche Hamburg-Lied. Jedes Kind kennt den Song vom "Jung mit 'n Tüdelband", der "an de Eck steiht, in de anner Hand 'n Bodderbrood mit Kees". Die "Hamburg-Hymne" feiert in diesem Jahr ihren 100. Geburtstag. Kaum jemand jedoch kennt die wahre Geschichte dieses Liedes (siehe plattdeutsche Version unten rechts), das auf Festen und Familienfeiern geschmettert wird und bei dem spätestens beim Refrain, hier auf Hochdeutsch, alle mitsingen: "Klaun, klaun, Äppel wollen wir klaun, ruckzuck übern Zaun, ein jeder aber kann das nicht, denn er muss aus Hamburg sein!"

Der Volkssänger Jochen Wiegandt, 63, ist ein Liedersammler und Geschichten-Jäger. Und irgendwann hat sich der Hamburger, der mit dem "Hamburg Journal" von NDR 90,3 und dem Hamburger Abendblatt die Aktion "Singen Sie Hamburgisch?" ins Leben gerufen hat, auf die Suche nach der musikalischen Geschichte des Hamburger Jung begeben. "Einiges war ja schon bekannt, aber viele Fakten und Namen zum Tüdelband sind erst nach und nach ans Licht gekommen", sagt er. Am Ende seiner Schatzsuche weiß Wiegandt, dass es wohl kaum ein populäres Lied gibt, bei dem über all die Jahre so viele verschiedene Autoren mitgewirkt haben. Die Spuren führen von Hamburg nach Berlin und wieder zurück auf den Falkenberg in der Neugrabener Heide.

Der Liedtext von "An de Eck steiht 'n Jung mit 'n Tüdelband"

Aber der Reihe nach. Im Mai 1911 textet Ludwig Wolf im Alter von 44 Jahren ein Couplet, also ein mehrstrophiges witzig-zweideutiges Lied, mit dem Titel "En echt Hamborger Jung". Das Couplet hat fünf Strophen und keinen Refrain. Die zweite Strophe lautete: "Dorch de Stroten lopt 'n Bengel mit 'n Trudelband, in de linke Fuust en Bodderbrood mit Käs, wenn he bloots nich mit de Been mol so in 't Tüdern kummt, bums, dor fallt de lütt je Jung all op de Näs! O, wat sleit he mit 'n Kopp an den Kantsteen, bitt sik dorbi noch gehörig op de Tung, he springt op und seggt: 'Ätsch, het gornich wehdoon!' Dat scheniert doch keen Hamborger Jung!"

Helmut Glagla, Bibliothekar im Museum für Hamburgische Geschichte, hat diese Zeilen im Nachlass von Ludwig Wolf entdeckt. Sie sind weitgehend identisch mit der noch heute gültigen ersten Strophe. Auch wenn das "Trudelband", mit dem die richtigen Hamburger Jungs früher einen Reifen im Sauseschritt durch die Straßen rollten, später durch das "Tüdelband", also einen Bindfaden, mit dem man etwas zusammentüdelte, ersetzt wurde.

Im Januar 1917 wurde das Lied erstmals im Bieber-Café am Hauptbahnhof von dem Wolf-Duo (Ludwig und Leopold) vorgetragen, allerdings noch mit einer anderen Melodie. Spur Nummer zwei führt zu Walter Rothenburg: Schriftsteller, Boxpromoter und Liedtexter. Von ihm stammt die zweite Strophe von der "Hamburger Deern", die ebenfalls "an de Eck steiht", und zwar "mit 'n Eierkorf" und "in de anner Hand 'n groten Buddel Rum".

Woher aber stammt nun die Melodie für die Strophen? Sie kommt von Charly Wittong, einem Hamburger Coupletsänger, der mit bürgerlichem Namen Carl Wittmaack hieß und mit dem Hamburger Volkssänger Hein Köllisch befreundet war. Der Hamburger Theaterschriftsteller Paul Möhring schrieb über Wittong im "Hamburger Echo": "Die erste Begegnung zwischen Walter Rothenburg und Charly Wittong im ehemaligen Kaiser-Kaffee am Schulterblatt, ein paar Jahre vor dem Ersten Krieg, wurde für den Sänger auf dem Podium zu einem bedeutsamen Wendepunkt." Rothenburg schrieb für "Schalli" fortan plattdeutsche Texte, Wittong wurde auf St. Pauli gefeiert, "Fohr mi mol röber" war sein größter Erfolg.

In den 1920er-Jahren sang er ein Lied, das es auch auf Schellack-Platte gab, mit dem Titel "En echt Hamborger Deern" - und unserer heute geläufigen Melodie. "Der Text ist verfasst von ,M. Wolf', Ludwig und Leopold kommen also nicht infrage", sagt Jochen Wiegandt. "Der einzige mögliche Autor mit diesem Kürzel ist Magda Wolf, die Frau des ältesten Wolf-Bruders. Gut möglich, dass sie die Idee hatte, dem Jungen eine Deern zur Seite zu stellen."

Bleibt letztlich die Frage nach dem Refrain vom "Tüdelband". Da führt die Spur Nummer drei nach Berlin. Und zwar zu Paul Lincke. Der Komponist und Theaterkapellmeister gilt als Vater der Berliner Operette und schrieb für die Sängerin Paula Menotti 1893 das Lied "Die Gigerlkönigin". Gigerl ist ein Altwiener Ausdruck für eine besonders modebewusste Person. Der Refrain lautet: "Sehen Sie, das ist mein Geschäft, das bringt heute noch was ein, 'ne jede aber kann das eben nicht, das muss verstanden sein." Und über Paul Lincke sangen die Berliner zu der Melodie dieses Refrains den Spottvers: "Paul, Paul, zuckersüßer Paul, frisch rasiert ums Maul, in jedem Strumpf hast du ein Loch, aber reizend bist du doch!"

Der Äppelklau-Refrain soll sich auf eine wahre Begebenheit beziehen

Hier kommen nun, als Spur Nummer vier, die "wilden Wandervögel" ins Spiel. Die "Falkenberger", benannt nach ihrem Ausflugslokal auf dem 68 Meter hohen Falkenberg in der Neugrabener Heide, welches von der Familie Ihde bewirtschaftet wurde. Eine Gruppe Halbstarker mit Seppelhütten und Kniebundhosen, die in den 1920er-Jahren oft singend durch die Straßen zogen und auf der heute fast vergessenen Hamburger Waldzither spielten, die sie mit bunten Bändern geschmückt hatten. Der Äppelklau-Refrain - zur Melodie vom zuckersüßen Paul - soll sich laut Angaben von Anni Hoyer, der Tochter der Wirtin Frau Ihde, auf eine wahre Begebenheit im damaligen Neugraben beziehen: "Klaun, klaun Äppel wollen wir klaun, man muss sich bloß mal traun. Mutter Ihde seggt, de Äppel sünd slecht, de loot sik gornich verdaun."

Das mutierte zum "Wanderrefrain" mit immer wieder leicht veränderten Textvariationen. "Irgendwann verselbstständigte sich der Refrain, wurde an die Strophe vom "Tüdelband" angehängt, wo er sich bis heute gehalten hat", sagt Jochen Wiegandt. Er spricht gern von einem "bunten Lied-Eintopf, der heute besser schmeckt denn je". Und der Volkssänger muss selbst immer ganz schön aufpassen, dass er bloß nich mit de Texten in Tüdel kommt, wenn er bei seinen Auftritten mit seiner Waldzither das Lied spielt, das alle kennen.