Dieter Hundt, 72, ist Präsident der Bundesvereinigung deutscher Arbeitgeberverbände (BDA)

1. Hamburger Abendblatt:

Sind Mitarbeiter, die öffentlich auf Missstände in ihrem Unternehmen aufmerksam machen, Denunzianten?

Dieter Hundt:

Nein. Wenn Arbeitnehmer in ihrem Unternehmen auf die Beseitigung von Missständen hinwirken, ist das sogar erwünscht. Nicht akzeptabel wäre es, wenn die Öffentlichkeit unterrichtet würde, ohne den Versuch zu machen, die Missstände zunächst im Unternehmen anzusprechen und aufzuklären. Das würde den Pflichten zur gegenseitigen Rücksichtnahme innerhalb eines Betriebes eindeutig widersprechen.

2. Was sollen Arbeitnehmer tun, wenn sie von illegalen Machenschaften in ihrer Firma erfahren?

Hundt:

In diesem Fall sollten Arbeitnehmer mit dem Betriebsleiter oder der Geschäftsführung sprechen und darauf hinwirken, dass entsprechende illegale Machenschaften unterbleiben. Die Klärung solcher Vorgänge innerhalb des Unternehmens muss in jedem Fall Priorität haben. Ich kenne keinen einzigen Arbeitgeber, der ein Fehlverhalten oder etwaige illegale Machenschaften nicht sofort abgestellt hat, wenn er darauf von Arbeitnehmern oder von anderen hingewiesen wurde.

3. Was erwarten Sie von den Unternehmen?

Hundt:

Wenn gerechtfertigte Vorwürfe gegenüber dem Betriebsleiter oder der Geschäftsführung angesprochen werden, liegt es im Interesse eines jeden Unternehmens, solche Fehler abzustellen.

4. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat entschieden, dass die fristlose Kündigung einer Arbeitnehmerin wegen der Veröffentlichung von Missständen bei ihrem Arbeitgeber gegen die Menschenrechtskonvention verstößt. Welche Folgen wird das Urteil haben?

Hundt:

Ich bin Praktiker und kein Jurist, aber die Fachleute sagen mir nach einer Analyse des Urteils, dass die bisherige Praxis und Rechtsprechung in Deutschland mit diesem Urteil grundsätzlich bestätigt wird. Lediglich im vorliegenden Fall haben die Richter aufgrund einer besonderen Einzelfallsituation ein abweichendes Ergebnis gefunden. Die Fachleute haben deshalb an dieser Entscheidung erhebliche Zweifel. Die Bundesregierung kann gegen dieses Urteil Rechtsmittel bei der sogenannten Großen Kammer des Gerichtshofs einlegen und sollte diese Möglichkeit auch sorgfältig prüfen.

5. Muss Ihrer Meinung nach der Gesetzgeber jetzt auf dieses Urteil reagieren?

Hundt:

Nein. Rufe nach neuen Gesetzen sind überflüssig. Probleme im Betrieb müssen zunächst intern geregelt werden. Dazu muss jedes Unternehmen seinen eigenen Weg gestalten können. Eine gesetzliche Regelung wäre äußerst problematisch.