Alle Menschen, jede Gruppe und Gemeinschaft hat ihre Lieblingsgeschichten. Geschichten, die hängenbleiben, die Bedeutung bekommen, an die man sich immer wieder gegenseitig erinnert. Dabei müssen sie gar nicht selbst erlebt worden sein, und trotzdem haben sie Bedeutung gewonnen für den, der von ihnen erfährt.
In meiner Gemeinde gehört diese Geschichte unbedingt dazu: Sie handelt von einer Frau, die niemals das Haus verließ, ohne sich zuvor eine Handvoll Bohnen einzustecken. Sie tat dies nicht etwa, um die kleinen, knuppeligen weißen Perlen in ihrer Tasche irgendwann zu essen oder damit Vögel zu füttern. Sie nahm sie mit, um auf diese Weise die schönsten Momente des Tages bewusster wahrzunehmen und sie besser zählen zu können.
Für jede positive Kleinigkeit, die sie tagsüber erlebte - eine schöne Begegnung auf der Straße, der frische Blumenstrauß auf ihrer Fensterbank, ein unverhoffter Anruf, die Abendsonne im Garten - für alles, was ihre Sinne erfreute, ließ sie eine Bohne von der rechten in die linke Jackentasche wandern. Manchmal waren es gleich zwei oder drei. Abends saß sie dann zu Hause und zählte die Bohnen aus ihrer linken Tasche. Sie zelebrierte diese Minute. So führte sie sich vor Augen, wie viel Schönes ihr an diesem Tag widerfahren war, und freute sich. Sogar an einem Abend, an dem sie bloß eine Bohne zählte, war der Tag gelungen - hatte es sich zu leben gelohnt.
Seit ich um die besondere Angewohnheit dieser Frau weiß, erinnere ich mich oft an ihr tägliches Ritual. Selten bin ich dabei so konsequent wie sie. Meistens denke ich mir auch nur die Bohne, die ich dann in Gedanken von einer Hosentasche in die andere wandern lasse. Oft vergesse ich auch die Nachlese am Abend. Doch vor ein paar Tagen beim Sortieren der Wäsche vorm Zubettgehen fiel mir eine aus der Tasche und prompt fielen mir auch die mit ihr verbundenen Erinnerungen wieder ein. Seien es kleine weiße Bohnen, Weizenkörner oder Kirschkerne - was immer uns hilft, uns zu erinnern: Wer den Tag denkt, denkt des Herrn und lobt das Leben.