Schuldenkrise, Griechenland, Euro-Rettung: Viele Bürger zweifeln am Sinn der europäischen Integration. Unser Autor nicht.

1961

Erst am Mittag erreichen meine Eltern das Brandenburger Tor. Die Campingrucksäcke auf den Gepäckträgern weisen sie als ostdeutsche Urlauber aus. Auf dem Platz vor dem Tor steht ein Volkspolizist. Mein Vater, 21, fotografiert meine Mutter, 20, vor dem Wahrzeichen. Er fragt den Vopo, ob man die Sektorengrenze passieren und für ein paar Aufnahmen zum sowjetischen Ehrenmal am Tiergarten nach Westberlin hinüber dürfe. Der Grenzer weist ihnen freundlich den Weg. An dem Denkmal, das kaum mehr als 200 Meter weit entfernt im Westteil der Stadt steht, macht mein Vater einige Schnappschüsse. Dann schieben sie ihre Räder unauffällig weiter nach Westen, zur Siegessäule auf der Straße des 17. Juni. Die Rotarmisten am Ehrenmal interessiert das nicht, sie stehen stramm auf Wache.

Es ist wohl einer der letzten unkontrollierten Grenzübertritte aus der DDR in den Westen, bei dem die Beteiligten nicht ihr Leben riskierten. Am nächsten Morgen, dem 13. August 1961, lässt die DDR-Führung die Sektorengrenze zwischen West- und Ostberlin abriegeln und beginnt mit dem Bau der Berliner Mauer. Entsetzt beobachtet mein Vater mit einem Onkel und Tausenden anderen Westberlinern, wie DDR-Truppen und Bauarbeiter Stacheldraht ausrollen, Straßen aufreißen, Steine schichten. Dass die DDR von diesem Tag an komplett eingemauert werden würde, ahnt er nicht. Niemand vermag sich vorzustellen, dass hier für Jahrzehnte ein Gefängnis entsteht.

Meinen Eltern gelingt die Flucht aus Ostdeutschland in letzter Minute, gemeinsam mit einigen Angehörigen. Ein anderer Teil bleibt zu Hause im thüringischen Greiz. Meine Familie wird zerrissen, so wie Europa zu dieser Zeit, 16 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, längst zerrissen ist. Der Kalte Krieg zwischen Ost und West tritt in seine heiße Phase.

Meine Eltern wurden von den Amerikanern aus Berlin ausgeflogen. Sie kamen in Aufnahmelager für DDR-Flüchtlinge und bauten sich später in Kassel ein neues Leben auf. Das "Diamant"-Fahrrad, mit dem mein Vater die DDR hinter sich gelassen hatte, habe ich 1977 mit 14 Jahren ramponiert, als ich eine Mofagabel mit Stoßdämpfern einbaute. Als ich viel später den Wert dieses Rades verstand, habe ich den Umbau sehr bereut. Erinnerungsstücke oder Fotos von ihrer Flucht besitzen meine Eltern nicht. Vor lauter Angst hatte mein Vater am Brandenburger Tor vergessen, die Kappe auf dem Objektiv seiner Kamera abzunehmen.

1981

Wir lehnen in der Mittagshitze an unseren Rucksäcken auf dem Bahnsteig des spanischen Grenzbahnhofs Irun und rauchen selbst gedrehte Zigaretten. Wohin jetzt? Mit dem nächsten Zug weiter nach Madrid, acht bis zehn Stunden in knallvollen Abteilen oder auf dem Fußboden des Ganges inmitten lauthals parlierender spanischer Großfamilien? Wieder zurück über die Grenze nach Frankreich und dann an die Atlantikküste bei Arcachon? Oder noch einmal an die Cote d'Azur, woher wir gerade kommen? Das lieber nicht, denn wir sind chronisch underdressed.

Unser Gepäck wiegt mehr als 20 Kilo, wir haben alles dabei, was wir zum Überleben zu brauchen glauben: von Campingzelt und Schlafsäcken bis hin zu Topf und Bratpfanne aus Mutters Bestand. Kompaktes Alugeschirr und leichte Allwetterkleidung: für uns 1981, mit Anfang 20, viel zu teuer. Dennoch fühlen wir uns bestens präpariert. Mit unserem Interrail-Ticket für 395 D-Mark können wir weite Teile Europas einen Monat lang per Bahn erkunden. Vom Nordkap bis Sizilien haben wir im Prinzip freie Fahrt. Das ist, nach der Jugend im nordhessischen Kassel, die ganz große Freiheit. Später wird im Freundeskreis verglichen: Wer hat die meisten Bahnkilometer geschafft, die verrücktesten Menschen getroffen, die härteste Etappe absolviert?

Mit uns in den Zügen sitzen viele beunruhigend blonde junge Schwedinnen. Mit Yachtbesitzern in Südfrankreich oder auf Sardinien finden sie zwanglos ins Gespräch, mit uns eher nicht. Auch bei den schwarzhaarigen Schönheiten Italiens und den betörend arroganten Französinnen entfalten wir nicht die erhoffte Wirkung. Wir tragen ausgeleierte Latzhosen, übernachten in einem Güterwaggon am römischen Hauptbahnhof Termini, auf alten Bastmatten unterm Eifelturm, sehen beim Aufstehen Obdachlose aus Pappkartons vor dem Bahnhof von Amsterdam kriechen. Aber wir schmecken das Salz des Mittelmeers, spüren den Sand des Atlantiks, sehen das Kolosseum, den Wiener Prater, die Rambla von Barcelona.

Nato und Warschauer Pakt rüsten zu Beginn der 80er-Jahre auf, den sowjetischen SS-20-Mittelstreckenraketen will der Westen amerikanische Pershings entgegenstellen. Bundeskanzler Helmut Schmidt wird unter anderem wegen des Nachrüstungsbeschlusses an seiner SPD scheitern und 1982 stürzen. Die Spaltung des Kontinents reicht so tief wie nie zuvor, Hunderttausende rufen bei Großdemonstrationen nach Abrüstung. Wir aber entdecken in jenem Sommer 1981 auf der Schiene eine neue Welt: ein Westeuropa, dessen Grenzen sich allmählich auflösen.

1991

Der Mann am Konferenztisch wirkt schmal und grau. Mit gepresster Stimme erzählt er davon, wie man die DDR hätte retten können. Das Wort "Reformen" nimmt Hans Modrow oft in den Mund. Ihn selbst sahen viele als einen Reformer des Sozialismus, als es mit der DDR zu Ende ging. So wurde der einstige Bezirksleiter von Dresden nach dem Fall der Mauer der letzte SED-Regierungschef, nur für fünf Monate, bis zum April 1990. Zu reformieren gab es da schon längst nichts mehr. Als ich Modrow zum Interview gegenübersitze, an einem Frühlingstag 1991 im Karl-Liebknecht-Haus in Ostberlin, sind die DDR und die Bundesrepublik seit einem guten halben Jahr vereint. Aus der Staatspartei SED wurde die PDS, die "Partei des Demokratischen Sozialismus". Und Modrow ist ihr Ehrenvorsitzender. Die Genossen bezogen das Haus am Rosa-Luxemburg-Platz als Zentrale. Kaum ein Ort steht so sehr für die Historie des deutschen Kommunismus.

Nicht weit davon entfernt, am Alexanderplatz, saß zur DDR-Zeit die staatlich gelenkte Hauptstadtpresse des Berliner Verlags, unter anderem die "Berliner Zeitung" und die "Neue Berliner Illustrierte". Neuer Eigentümer ist seit 1990 das Hamburger Verlagshaus Gruner + Jahr. Aus der "Neuen Berliner Illustrierten" wurde das "Extra Magazin". Statt geschönter Reportagen über fleißige Erntearbeiter und die Übererfüllung von Wirtschaftsplänen erscheinen nun Farbstrecken mit Erotiktipps und Reiseberichten aus Mallorca. In der Redaktion arbeiten 50 Ossis und 20 zumeist jüngere Wessis, darunter ich. Manche der Wessis verdächtigen manche der Ossis, früher für Erich Mielkes "Firma horch und guck", die Stasi, gearbeitet zu haben. Manche Ossis halten uns Nachwuchsreporter aus dem Westen für die neue Besatzungsmacht. Ostdeutschland nach der Einheit ist wie eine große Wunde, die lange Zeit brauchen wird, um zu verheilen. Die meisten von uns aber wissen, dass wir in Berlin-Mitte zueinander gekommen sind, um an einem neuen Land zu bauen. Wir reisen durch Ostdeutschland, auf abenteuerlichen Wegen, und alle Türen öffnen sich. Auf den Telefonen in der Redaktion steht noch immer "Volkspolizei 110".

Auf der Herrentoilette des "Extra Magazins" riecht es streng nach Hygienesteinen einer nicht mehr handelsüblichen Marke und nach sehr alten Armaturen. Trotzdem freue ich mich jedes Mal, wenn ich dort stehe und auf SED-Inventar pinkeln kann, ohne dass ich einen Übergriff des Politbüros fürchten muss.

2004

Pinienharz tropft mit dem Regen auf das schwarze Dach des Cabriolets. Mit der Zeit wird das Harz weiß wie Taubenmist, und es klebt so fest, dass man es mit Wasser und Bürste kaum herunterbekommt. Unser Auto steht auf einem Campingplatz an der Dune du Pilat, Europas höchster Sanddüne, an der französischen Atlantikküste bei Arcachon. Eigentlich will ich mit meiner Tochter Joanna im Sommer 2004 eine lässige Südfrankreich-Tour von Zeltplatz zu Zeltplatz machen und Orte wiederfinden, die ich selbst früher besucht hatte. Aber der Sommerregen hält sich wochenlang. So bleiben wir an der Küste und spielen in den kurzen Trockenzeiten Federball.

Meine Tochter, mittlerweile fast 18 Jahre alt, hat mit ihrer Mutter ein Jahr lag an der Dordogne gelebt und in Tursac die 4. Klasse einer Dorfschule mit insgesamt 40 Schülern besucht. Dort unterrichtete der Direktor, im Türrahmen stehend, auch schon mal zwei Klassen parallel. Der Traum eines einigen Europas schien zu dieser Zeit wahr geworden zu sein. Eine Reihe osteuropäischer Staaten war bereits Mitglied der Europäischen Union, weitere sollten folgen. Im Westen der EU war es längst normal, wenn ein Kind aus einem anderen Land für einige Zeit als Gast in eine Schule kam.

Mit Menschen und Sprachen aus anderen Ländern aufzuwachsen, ist für Joanna Alltag. Die erste Fremdsprache ihres deutschen Gymnasiums ist Französisch, ihre beste Freundin Engländerin. In Großbritannien war sie mittlerweile viel öfter als ich. Von Europa aber hat sie noch kein klares Bild, obwohl sie damit groß geworden ist: "Ein sehr wackeliges Gebilde" sei das, "ein Scheinriese", "Kulturbrei", findet sie, nachdem sie einen Tag lang darüber nachgedacht hatte.

An der Rezeption unseres Campingplatzes am Atlantik führte meine Tochter 2004 flüssig die Konversation mit der Empfangsdame zu Ende, die ich mit meinem verfallenen Französisch schon nach wenigen Sätzen wieder abbrechen musste. Trotz des Regens war es ein sehr schöner Urlaub. Das gemietete Cabriolet hatte seinen Zweck zwar nicht erfüllen können. Aber auf dem Rückweg nach Hamburg reisten wir durch einen Teil Europas, in dem es keine Grenzen mehr gibt.

2010

Draußen vor dem Fenster, in der Altstadt von Tallinn, stehen in den Fassaden fast 1000 Jahre europäischer Geschichte. Drinnen im Büro sitzt ein Mann im schweren Holzsessel, der dieser Historie noch viele europäische Jahre hinzufügen will. Andrus Ansip, der Premierminister von Estland, steht im Herbst 2010 vor einem großen politischen Erfolg. Zum 1. Januar 2011 führt sein Land den Euro ein.

An diesem Tag Ende September bittet Ansip das Abendblatt zum Interview im Stenbock-Haus, der historischen Residenz in Tallinn. Als 17. Mitgliedsland der EU tritt Estland dem Euro bei - in einer Zeit, in der die Währungsunion so gefährdet scheint wie nie zuvor. Griechenland und Italien, Spanien und Portugal - flächendeckend leidet der Süden Europas an wirtschaftlicher Schwäche und Überschuldung. Hinzu kommt die finanzielle Krise Irlands. Vor diesem Hintergrund wirkt Estlands Euro-Beitritt wie ein besonderes Signal. Das Land im Baltikum ist die erste frühere Teilrepublik der zerfallenen Sowjetunion, die das europäische Geld einführt. Schon bald nach seiner Unabhängigkeit zu Beginn der 90er-Jahre drängte Estland in die Nato und in die Europäische Union. Für die Mehrheit der Esten stand eine Zukunft in Europa nach dem Ende des Kalten Krieges nie infrage.

Zwar kämpft das Land noch mit vielen Problemen. Eine große russische Minderheit, ein angespanntes Verhältnis zu Moskau, harte Folgen der Weltwirtschaftskrise, eine Arbeitslosenquote von zeitweise fast 20 Prozent erfordern Mut und politisches Geschick.

Ihren Traum von Europa aber haben die Esten nicht aufgegeben. Jahrhunderte der Unterdrückung und der gesellschaftlichen Spaltung seit dem russischen Zarenreich haben sich tief ins Bewusstsein des Landes gegraben. Doch es gab dort auch eine bessere Epoche: die Zeit der Hanse, des Handelsbündnisses rund um die Ostsee vom 12. bis zum 17. Jahrhundert. Die Hanse, die den friedlichen Austausch von Gütern zwischen Städten und Ländern organisierte, war Vorbild einer modernen Europäischen Union. Reval, wie Tallinn damals hieß, war eine ihrer Metropolen.

"Die EU ist eine neue Hanse", sagt Premierminister Ansip in seinem Büro. Er sagt es leise, aber ebenso bestimmt, wie er Estland in Europa zu verankern sucht. Es sind dieser Wille und diese Weitsicht, die Europa heute so dringend braucht. Sie verdienen Bewunderung und Respekt. Und sie machen die Esten für mich zu den heimlichen Helden des heutigen Europas.