Berühmt als TV-Star, brillant auf der Theaterbühne - der große Schauspieler Heinz Reincke ist in Wien im Alter von 86 Jahren gestorben.

Hamburg. Richtig bekannt wurde er erst als Fernsehschauspieler. 24 Jahre lang spielte Heinz Reincke in der ZDF-Serie "Der Landarzt" den Pastor im fiktiven schleswig-holsteinischen Ort Deekelsen an der Schlei. Mit dieser Rolle wurde er berühmt, obwohl man ihn schon kannte, aus dem "Tatort" oder dem "Großstadtrevier", aus Filmen wie "Auf der Reeperbahn nachts um halb eins" oder "Das fliegende Klassenzimmer". In unterschiedlichen Rollen war er in mehr als 20 "Heimatgeschichten" des NDR zu sehen gewesen, in denen er typisch norddeutsche Charaktere verkörperte.

Doch sein Leben im Fernsehen war erst seine zweite Karriere. Heinz Reincke, der gestern im Alter von 86 Jahren in einem Pflegeheim bei Wien gestorben ist, war eigentlich ein ganz großartiger Bühnenschauspieler.

Früher, ganz früher, als man im Theater noch nach Fächern besetzte und Typen suchte, da konnte einer wie Heinz Reincke rasch Karriere machen. So ein großer, blonder, bärbeißiger Kerl, der selten ein Blatt vor den Mund nahm und es immer sagte, wenn ihm was nicht passte. Der spielte Draufgänger, Anführer, jugendliche Liebhaber. Knorrig, kernig, proletarisch war er. Mit tiefer, kräftiger Stimme, die man wohl auch im zweiten Rang noch deutlich hören konnte. Schauspielen und Boxen nannte Reincke die Leidenschaften seines Lebens. Die Eltern hatten für ihn solidere Lebensziele. Er musste eine Lehre bei der Industrie- und Handelskammer machen. Doch schon während dieser Zeit nahm der 16-Jährige Schauspielunterricht und spielte als Komparse am Kieler Stadttheater, arbeitete dort auch als Souffleur und Inspizient. Eine wahre Besessenheit kann man eben nicht stoppen.

Reincke war vielseitig und wandlungsfähig. Viele Jahre gehörte er als Ensemblemitglied zu den besten Sprechbühnen, die das deutschsprachige Theater damals kannte: dem Deutschen Schauspielhaus in Hamburg und dem Wiener Burgtheater. Dort spielte er in Klassikern wie in Wolfgang Borcherts "Draußen vor der Tür" oder "Helden" von George Bernard Shaw. Daneben hat er in Filmen wie "Der längste Tag", "Fluchtweg St. Pauli" und "Der Lord von Barmbeck" gespielt. Doch in den vergangenen 20 Jahren war Reincke hauptsächlich im Fernsehen zu sehen, in Serien wie "Zwei Münchner in Hamburg". Die große Zeit von Reincke im Fernsehen hatte schon vorher begonnen. Er spielte mit Schauspielern wie Dieter Borsche und Inge Meysel, Horst Frank, Manfred Steffen, Gert Fröbe, Klausjürgen Wussow und wie die Helden des Nachkriegs-Fernsehzeitalters alle hießen.

1955, mit nur 25 Jahren, wird Heinz Reincke von Gustaf Gründgens engagiert. Der damalige Verwaltungsdirektor Gerhard Hirsch hatte Reincke im Berliner "Theater am Kurfürstendamm" gesehen und Gründgens begeistert von ihm telegrafiert. "Sofort nach Hamburg holen", antwortet Gründgens. Reincke hat sich später über dieses "Blindbuchen" amüsiert. Schon in seiner ersten Rolle und der zweiten Premiere der Gründgens-Ära glänzt und überzeugt Reincke in der Uraufführung von Carl Zuckmayers "Das kalte Licht". In der Premierenkritik des Hamburger Abendblatts heißt es damals: "Im Mittelpunkt des Hamburger Aufführungserfolgs steht Heinz Reincke als Atomspion Wolters. Ein Nerven-Schauspieler höchst eigener Prägung. Stimmlich wie von der Erscheinung her. Ein Mensch in Gewissensqual, ein Verräter, den zu verdammen schwerfällt, Typus eines Zeitalters und seiner Entscheidungszweifel. Man empfand seine Darstellung, die auf weitere Aufgaben sehr gespannt macht, als außerordentlich gültig."

Kein Wunder. Schon die Vorgeschichte zur Premiere war bemerkenswert, denn Zuckmayers Witwe wollte bei der Besetzung der Rolle des Atomspions mitreden und schrieb Gründgens, sie wolle seinen Hauptdarsteller erst sehen, bevor sie der Uraufführung zustimme. Reincke, der damals in Stuttgart engagiert war, erzählte, wie Gründgens ihn aufgefordert hatte: "Ich habe Ihnen als künftiger Chef meine erste Regieanweisung zu geben", sagte Gründgens. Ich schicke Ihnen heute das Buch ,Das kalte Licht', und Sie lesen es sofort. Wenn Frau Zuckmayer morgen nach Stuttgart kommt, spielen Sie ihr den Atomspion so gut vor, wie ein Spion in Wirklichkeit gar nicht sein kann." Frau Zuckmayer telegrafierte danach an Gründgens: "Nur er soll den Spion spielen."

Reincke spielt in Hauptmanns "Rose Bernd", übernimmt die Titelrolle in Hans Henny Jahnns "Thomas Chatterton". Max Ophüls besetzt ihn in Beaumarchais' "Der tolle Tag". Wieder ist ein Hymnus über Reincke zu lesen: "Reincke ist ein Komödiant von ganz eigenem Wuchs und Gesicht. Der Figaro ist ein neuer Beweis für Reinckes außerordentliche Begabung." Singen kann Reincke auch. Und natürlich spielte er im legendären "Faust" mit, als Frosch.1966 verlässt Reincke im Krach mit dem damaligen Intendanten Oskar Fritz Schuh das Schauspielhaus, nicht ohne ihn zuvor als "Dilettanten" zu bezeichnen.

1968 wechselt er ans Wiener Burgtheater. Ein Nordlicht im "süßen" Wien. "Hier kann ich meinen preußischen Charme mit der österreichischen Disziplin koppeln", lästert Reincke. Von Gründgens hatte er einiges gelernt. "Als ich nach Wien an die Burg kam, wunderten sich viele, dass man mich bis zur Galerie hinauf verstand. Das war eben der Hamburger Gründgens-Stil." Auch an der Burg feiert er große Erfolge, als Mephisto in "Faust", als Cyrano de Bergerac, Herr Biedermann in "Biedermann und die Brandstifter" und Willy Loman in "Tod eines Handlungsreisenden". Seine letzte Bühnenvorstellung gibt er mit dem Parade-Preußen Wilhelm Voigt in "Der Hauptmann von Köpenick". Nie wieder wolle er auf eine Bühne, hat er damals gesagt.

Der sich ironisierende "Rau, aber herzlos"-Typ, dessen norddeutsche Urlaute 18 Jahre lang durch das Burgtheater gedröhnt hatten, spielt den Hauptmann als armes Luder, nicht als Karikatur auf den preußischen Militarismus. "Sein Voigt", so urteilt ,Die Presse', "ist ein sehr zurückgenommener berührender Mensch. Still mausgrau." Reincke hat inzwischen die österreichische Staatsbürgerschaft angenommen.

Nach Hamburg kommt er jedoch immer wieder, um auf Eberhard Möbius' "Das Schiff" launige Abende zu geben. Mal erzählt er aus seinem Leben, mal liest er Zuckmayer, Tucholsky, Ringelnatz und Busch, mal singt er "La Paloma". Das Publikum liegt ihm zu Füßen. Damals wurde klar, wie sehr das Raubein Reincke zeitlebens unterm Theaterstress gelitten hatte. Das fing schon 1955 am Schauspielhaus an, wo ihm Gustaf Gründgens sein aus der Angst geborenes Outrieren abgewöhnte: "Sehr schön, Heinz, aber versuche nicht, das Stück zu retten", sagte der dann, wenn Reincke zu dick aufgetragen hatte. "Der Stress am Theater steht in keinem Verhältnis zu den Einkünften", beklagte sich Reincke. "Ich muss mich abtigern, ewig Text lernen, riesige Wortkaskaden intus kriegen und jeden Abend das Examen vorm Publikum ablegen. Ich hab dauernd Todesangst, dass der Text wegbleibt, und dann muss ich saufen", erklärte Reincke einmal.

Reincke war Kieler. Als Berufsnorddeutscher und eine Art Hans-Albers-Verschnitt wurde er am liebsten besetzt. Immer dann, wenn es um Kapitäne ging, um Sturköppe oder Käuze, Kerle, die entweder wortkarg waren oder eine große Klappe hatten.

Dabei war Reincke ein richtiges Theatertier, ein sogenannter Vollblut-Schauspieler. Jemand, der es krachen lassen konnte - auf der Bühne und nach der Vorstellung. Ein Kerl aus einer Zeit, als man noch rauchte und trank und Männer haptische Beziehungen zu Frauen pflegten. Also einer, der eher weniger mit Vegetariern, Wassertrinkern und politisch Korrekten anfangen konnte. Das moderne Leben war nichts für ihn. Er wetterte gerne über den "Kulturverfall" und das "Regietheater". Mit Reincke ist einer der letzten Schauspieler alter Schule gestorben.

Heinz Reincke alias Hans Albers singt "La Paloma"