In Altona hat die Adoption einer jungen Rabenkrähe das Zusammenleben einer Hausgemeinschaft gründlich durcheinandergewirbelt – und gefördert.

Altona. Es geschah an einem lauen Frühsommerabend, Anfang Juni etwa, als das Leben des Lukasz Chrobok eine unerwartete Bereicherung erfuhr. Der Künstler mit polnischen Wurzeln, 35 Jahre alt, saß vor seinem gemieteten Einzelhaus, einer ehemaligen Schmiedewerkstatt, inmitten eines idyllischen Altonaer Hinterhofs, der von Altbauten entlang der Esmarch- und der Virchowstraße sowie einer Großbaustelle an der Chemnitzstraße umsäumt wird. Dort wohnt er seit gut eineinhalb Jahren mit seiner Freundin Carmen und ihrem Sohn Janosch. Der Lärm der Großstadt war ausgesperrt, und die Bohrhämmer auf der Baustelle nebenan ruhten. Lukasz, vor sich ein Laptop, trug sein Eulenkostüm und hatte sich vorgenommen, sein neues Projekt, die Kunstfigur "Mc Oylä", mit Inhalten zu füllen.

Plötzlich stand eine ältere Frau aus dem Nachbarhaus am Maschendrahtzaun, der die Hinterhofgärten voneinander trennt, und sprach ihn an. Lukasz kannte sie nicht, so wie ihm fast alle Menschen, die um ihn herum wohnten, fremd waren. Die Hinterhofgärten wurden von ihnen nicht genutzt, die großzügige Sandkiste für Kinder war zum Katzenklo verkommen.

Die Nachbarin berichtete aufgeregt von einem schwarzen Vogel, der wohl schon seit Längerem im verwilderten Beet vor ihrem Fenster sitzen würde. Sie hätte ihn aber erst jetzt entdeckt, zufällig, beim Müllraustragen. Als Mann der Tat kletterte der Künstler über den Zaun aufs fremde Grundstück. Er wusste zufällig, dass es nicht einfach ist zu beurteilen, ob ein nicht flugfähiger Jungvogel versehentlich aus dem Nest geplumpst oder wegen Lebensuntüchtigkeit von den Eltern vorsätzlich geschubst worden war. Vögel sind schließlich überzeugte Darwinisten.

Der Eulenmann glaubte, einen Raben, mindestens jedoch eine Rabenkrähe zu erkennen. In diesem Moment schoss ihm der Name "Kohlrabi" durch den Kopf, denn die Entscheidung für eine Adoption war längst getroffen. Zum einen wegen der Katzengefahr, zum anderen, weil er einen eigenen Garten besaß und die Nachbarin, die er nach 18 Monaten kennengelernt hatte, nicht.

Die nächste Stunde recherchierte der Eulenmann im Internet über Aufzucht und Hege von Rabenvögeln, während "Kohlrabi" piepsend unterm Gartentisch hockte. Als Lukasz im Internet das rabenforum.de entdeckte, musste er jedoch erfahren, dass die vermeintlichen Hilfeschreie häufig in Wahrheit Bettelrufe sind, mit denen Jungvögel die Verbindung mit ihren Eltern halten. Vielleicht war "Kohlrabi" also gar kein verstoßener "Nestling", sondern bloß ein flugunfähiger "Ästling", der sein Nest freiwillig verlassen, dabei jedoch offensichtlich den rettenden Ast verfehlt hatte. Erst in diesem Moment fiel es Lukasz auf, dass über ihm die Rabeneltern kreisten und ordentlich Radau machten. Aber auch als Lukasz sich verschämt zurückzog, kam niemand zum Füttern, sodass er kurz vor Mitternacht damit begann, in Ermangelung von Mehlwürmern im Garten nach Regenwürmern und Kellerasseln zu buddeln. Carmen, die erst spät aus ihrem Designergeschäft im Stilwerk heimgekommen war, fand das nächtliche Tun ihres Freundes zwar befremdlich, opferte aber dennoch sofort eine Porzellanschale. Lukasz zermanschte seine organischen Fundsachen zu einem nahrhaften Brei, den "Kohlrabi" dankend annahm. Am nächsten Morgen war die Schale leer gepickt, "Kohlrabi" forderte energisch Nachschlag, und Lukasz zog los: Mehlwürmer kaufen.

In den nächsten Tagen pinnte die "Familie im weißen Haus" die Nachricht vom Einzug des gefiederten Gastes in alle benachbarten Hauseingänge und bat die BesitzerInnen von Katzen um zeitlich begrenzten Hausarrest für ihre Raubtiere. Es dauerte nicht sehr lange, da standen wildfremde Menschen auf der Terrasse, freuten sich flüsternd über die Entwicklung des putzigen Kerlchens, das jeden Tag ein Stückchen weiter flog. Bis dahin war die Familie von den Nachbarn immer etwas misstrauisch beäugt worden, was sicherlich am gewöhnungsbedürftigen Eulenkostüm gelegen haben dürfte. Jetzt drückten sie Lukasz unaufgefordert Zehn-Euro-Scheine in die Hand, "für Mehlwürmer", und Elfi, eine hochbetagte Dame aus dem Nachbarhaus, kam nun jeden zweiten Tag herüber, mit frischem Hack und Bioeiern vom Markt.

"Kohlrabi" hatte inzwischen die Rückenlehne eines schwarzen Gartenstuhls als Lieblingsplatz erwählt. Dort oben posierte er eitel wie ein Pfau und kotete lustvoll das Gartenmöbel zu.

Eine Woche später, als Carmen beglückt feststellte, dass ihr Lukasz noch viel zärtlicher besaitet war, als sie bis dato angenommen hatte, und ihre Liebe durch "Kohlrabi" einen positiven Schub erfahren hatte, wurde der Vogel plötzlich ernsthaft krank. Innerhalb kurzer Zeit brachen seine Schwanzfedern ab, dann stellten sich die Flügelfedern quer. Mit der Fliegerei war Schluss. Der besorgte Lukasz lieferte den Zerrupften in eine tierärztliche Gemeinschaftspraxis ein. Dort scheuchte bereits der erste Spritzer eines bewährten Medikaments die berüchtigten Federmilben in Scharen aus dem Restgefieder. Diese Parasiten, zumeist von Igeln übertragen, ernähren sich von den Federkielen ihrer Wirte und zerbröseln sie gründlich. Grundsätzlich, mahnte die freundliche Veterinärin, sollte man allerdings niemals Wildvögel einsammeln, aber Lukasz hätte es ja gut gemeint, und überdies wäre aufgrund des extremen Parasitenbefalls "Kohlrabis" Leben wahrscheinlich nur sehr begrenzt gewesen.

Jetzt hat der Eulenmann auch kein schlechtes Gewissen mehr. Er baut "Kohlrabi" einen Rabenhorst mit überdachter Querstange, weil Carmen auch mal wieder auf ihrem Gartenstuhl sitzen will.

Elfi ist und bleibt eine verlässliche Hackfleischlieferantin, und Conny von nebenan will die Fütterung übernehmen, wenn die Familie in Urlaub fährt. "Kohlrabi" hüpft derweil munter die verwaisten Trampelpfade der Katzen entlang. Manchmal zieht er einen Regenwurm aus der Erde. Seine Federn wachsen langsam nach, und mit seinen Eltern verständigt er sich nur noch gelegentlich, wie Lukasz meint.

Vielleicht wird er bald wegfliegen, ein Nest bauen und eine eigene Familie gründen. Vielleicht aber auch nicht. "Ja", sagt Lukasz Chrobok nachdenklich, "unser 'Kohlrabi' ist ganz sicher so was wie ein Katalysator der Freundschaft." Bald wollen alle Nachbarn gemeinsam grillen, im Hinterhof.