CDU, FDP, SPD und Grüne müssen nach der Energiewende ihren Standort neu bestimmen. Wer das am besten schafft, kann die Bundestagswahl gewinnen

Die Energiewende hat der CDU eine Debatte um Grundsätze, unverzichtbare Programmpunkte und Ziele eingetragen - kurz: um die Identität der Partei. Willkommen im Klub! Die FDP plagt sich schon seit Monaten mit Identitätsproblemen herum, sie konnte sie auch auf dem Rösler-Parteitag im Mai nicht lösen. Bei der SPD gibt es eigentlich immer Streit um die sozialdemokratische Identität, verschärft seit der Großen Koalition und der Wahlniederlage vor zwei Jahren. Und auch den Grünen wird der Verlust ihrer Identität vorausgesagt - ebenfalls wegen der Energiewende, allerdings aus entgegengesetztem Blickwinkel. Während diese Wende von Teilen des CDU-Anhangs als Blamage und Niederlage angesehen wird, könnten sich die Grünen mit ihr zu Tode gesiegt haben.

Nur das Selbstbild der Linkspartei ist unerschütterlich. Allerdings in einigen politischen Positionen dermaßen von gestern, dass sie als Regierungspartei nicht infrage kommt. Union, SPD, Grüne und FDP aber wollen regieren, wollen das Land nach ihren Vorstellungen zum Besseren verändern. Dazu gehört es, Koalitionen zu schließen, Kompromisse einzugehen, die eigene Meinung immer wieder mit der Realität und dem Weltgeschehen abzugleichen. Das heißt: die Identität der Partei immer wieder neu zu entwickeln.

Mit diesem Prozess haben ungebundene Wähler kein Problem, sie suchen sich das passende Angebot aus. Viele Mitglieder und feste Anhänger der Parteien jedoch misstrauen jeder Veränderung, sie geben ungern hergebrachte Positionen preis. Dabei haben sie alle schon erlebt bzw. gelernt, dass manchmal nur radikale Kurswechsel die eigene Partei am Leben und wählbar erhalten. So hat die SPD mit dem Godesberger Programm viele vorher bekämpfte Unions-Positionen akzeptiert, später übernahm die Union Willy Brandts Ostpolitik.

Jedes Mal haben dabei alle, historische Gewinner wie Verlierer, Alleinstellungsmerkmale verloren. Jedes Mal mussten sie ihre Identität nachjustieren. Es ist ihnen jedes Mal gelungen. Deshalb sind vermutlich auch die Grünen nach ihrem Sieg beim Atomausstieg als Partei ebenso wenig erledigt wie die CDU nach ihrer Kehrtwende.

Mit der Energiewende wird freilich auch das letzte große deutsche Streitthema im Konsens aufgelöst. Grundsätzliche weltanschauliche Fragen, in denen sich die Unterscheidbarkeit einer Partei gegenüber der Konkurrenz manifestieren könnte, gibt es nicht mehr. Es geht nur noch - von EHEC bis zum Euro - um handwerklich gute Politik. Man braucht nur einen Blick ins aktuelle Politbarometer zu werfen, um zu wissen, was die Wähler erwarten und schätzen. An der Spitze der Beliebtheitsskala liegen Steinbrück, Steinmeier (beide SPD) und de Maizière (CDU). Drei Profis ohne allzu viel parteipolitischen Stallgeruch, mit ähnlichen Lebensläufen. Alle drei haben sich als Referenten, Büroleiter etc. von Ministern und Ministerpräsidenten hochgearbeitet, alle drei kennen das Geschäft in jedem Detail, zwei von ihnen waren Kanzleramtsminister.

Der Erfolg der Grünen liegt auch an ihrem professionellen, perfekt gecasteten Führungsquartett Trittin, Künast, Roth, Özdemir. Dazu kommt Kretschmann. Für jeden Grünen-Wähler ist ein Mensch dabei, mit dem er sich identifizieren kann. Dagegen weiß niemand, wofür die Nachfolger des FDP-Minusmanns Westerwelle stehen. "Ab jetzt wird geliefert", hat der neue Parteichef Rösler versprochen. Aber was? Offensichtlich ist nur: Zu Koalitionsverhandlungen mit der Union kommt die FDP-Spitze durch den Lieferanteneingang.

Zwei Jahre haben alle Parteien bis zur Bundestagswahl nun Zeit, ihre Identität neu zu finden. Für die Zeit nach der Energiewende hat noch keine ein zündendes Sachthema entdeckt, mit dem sie sich im Wahlkampf von der Konkurrenz abheben könnte. Und wie steht es um die Identität, die über die Politiker an der Parteispitze vermittelt wird? Bei der FDP ist sie noch nicht zu erkennen. Die SPD hat zwar zwei mögliche Kandidaten, Steinbrück und Steinmeier, mit denen sich die Wähler identifizieren - aber so sehr nicht die Parteifunktionäre. Auch der Politikstil von Bundeskanzlerin Angela Merkel ist in den eigenen Reihen umstrittener als im Wahlvolk. Und selbst die Grünen, die personell aus dem Vollen schöpfen können, haben noch eine knifflige Aufgabe vor sich: einen Kanzlerkandidaten zu benennen, der dann allein die Partei repräsentiert.

Deutschlands Parteien in der Identitätskrise. Wer sie am besten löst, kann die Wahl gewinnen. Aber alle sind davon noch weit entfernt.