Eine Glosse von Birgit Reuther

Mit der Realität und der Fiktion ist das so eine Sache. Es mag ja New Yorker geben, die die nächstgelegene Straßenecke erst dann für echt halten, wenn sie in einem Film von Woody Allen oder einem Buch von Paul Auster auftaucht. Berliner können ihren Hauptbahnhof unter anderem in Tom Tykwers Thriller "The International" begutachten.

Hamburger verfolgen, wie sich Noch-"Tatort"-Kommissar Cenk Batu durch den Nieselregen der Hansestadt ermittelt. Oder sie begutachten in Fatih Akins Geschichten, wie Altona und St. Pauli zu den wahren Hauptdarstellern auf der Leinwand avancieren. Sprich: Der Metropolenbewohner ist verwöhnt, was die mediale Präsenz und kulturelle Überhöhung seiner unmittelbaren Nachbarschaft angeht.

Menschen wiederum, die wie ich in mittelgroßen Kreisstädten aufgewachsen sind, pflegen gern ihren Komplex: Ja, wo viele Leute leben, da passiert was. Da leuchten die Lichter der Großstadt, da strahlt der Himmel über Berlin, da ist Sex in der City. Das gehört auf die Leinwand, zwischen Buchdeckel. Aber bei uns, was ist bei uns schon los?

Doch jetzt ist es passiert: Ich saß in Ottensen und las ein Buch, das in meiner Geburtsstadt spielt. In Wesel am Niederrhein in Nordrhein-Westfalen. Eine Stadt, die einfach so da ist. Ohne großes Aufheben. Der Autor Oliver Uschmann erzählt in seinem neuen Werk "Nicht weit vom Stamm" von einem Jungen, der auf die schiefe Bahn gerät.

Das ist mitunter harter Tobak. Doch für mich sind die 522 Seiten ein Heimatroman. Ich kenne jeden der Orte, die er beschreibt. Ich weiß, wie ausgeblichen die Sommerkirmes am Fluss liegt. Ich weiß, wie es an der Kreuzung riecht, die zu meinem Elternhaus führt. Und ich weiß, wie die Stimmen um die Kneipen am Kornmarkt klingen. Ein Stück meiner Realität ist zur Fiktion geworden. Kunst kann eben auch vom flachen Land kommen. Ohne provinziell zu sein. Schön ist das.