Die Bundesregierung muss sich auf gemeinsame Ziele einigen, um Substanz und Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen und zu zeigen, wofür sie steht

Nur 52 Prozent der Wähler glauben laut ARD-"Deutschlandtrend" zu wissen, wofür die CDU politisch steht. Bei der FDP ist es noch schlimmer, von deren Positionen haben lediglich 37 Prozent eine Vorstellung. Und würde man nach den gemeinsamen Grundsätzen und Zielen von Schwarz-Gelb fragen, ginge die Zahl vermutlich noch viel tiefer in den Keller. Schließlich scheint ja selbst das Spitzenpersonal der Koalition nicht immer genau zu wissen, was von den ursprünglichen Vorhaben der Regierung Merkel übrig geblieben ist, welche Vereinbarungen noch gelten und wo weitere Kehrtwenden zu erwarten sind.

Zeit also für einen grundlegenden Neustart in der Mitte der Legislaturperiode. Nach dem FDP-Parteitag vom 13. bis 15. Mai, wo sich die Liberalen neu finden wollen, sollte sich die gesamte Koalition ebenfalls neu aufstellen. CDU/CSU und FDP sollten einen völlig neuen Koalitionsvertrag verhandeln und schließen. Der alte ist nach den internen Konflikten der beiden Partner und nach den vielen Krisen und Großereignissen der ersten beiden Regierungsjahre so zerfleddert, dass er als Grundlage für die nächsten zwei Jahre nicht mehr dienen kann.

Anlass für einen frischen Vertrag ist auch der Namenswechsel der Regierung. Sie heißt bald Merkel/Rösler. Wenn sich diese Formation nicht von Anfang an auf gemeinsame Ziele einigt, wird sie sich bis zur Bundestagswahl 2013 genauso zerstritten präsentieren wie zuvor die Regierung Merkel/Westerwelle. Einen Vorgeschmack auf möglichen Dauerkrach vermittelte über Ostern das Thema Pkw-Maut. CSU-Chef Seehofer will sie unbedingt, FDP-Generalsekretär Lindner auf keinen Fall. Da hilft doch nur: verhandeln, einigen, die Einigung festschreiben und nicht mehr davon abrücken.

Anderes, ebenfalls aktuelles Beispiel: FDP und CDU möchten auf die für 2013 geplante Einführung des "Betreuungsgeldes" für Eltern, die ihre Kinder in den ersten drei Lebensjahren nicht in den Kindergarten schicken, verzichten. Die CSU beharrt darauf. Begründung: So stehe es doch im - derzeit noch gültigen - Koalitionsvertrag. Abgesehen vom umstrittenen Sinn des "Betreuungsgeldes" - müssen die dafür vorgesehenen zwei Milliarden Euro nach der Atomwende nicht eher für energiepolitische Maßnahmen ausgegeben werden, etwa für Gebäudesanierung?

Es waren vor allem zwei Projekte, mit denen sich Union und FDP im Wahlkampf 2009 von Rot-Grün abgesetzt haben und mit denen sie die Identität der schwarz-gelben Koalition symbolisieren wollten: Steuersenkungen und die Verlängerung der AKW-Laufzeiten. Das erste Ziel wurde mangels Finanzmasse niemals ernsthaft in Angriff genommen, das zweite nach Fukushima einkassiert und ins Gegenteil verkehrt.

Diese Kursänderungen haben Substanz und Glaubwürdigkeit von Schwarz-Gelb erschüttert. Doch das pragmatische Reagieren auf veränderte Tatsachen macht manchmal gute Politik aus. Auch die rot-grüne Bundesregierung unter Kanzler Schröder hat Beschlüsse fassen müssen (Agenda 2010, Kosovo- und Afghanistan-Einsatz), die nichts mit ihren ursprünglichen Ankündigungen zu tun hatten.

Entscheidend ist es, solche Richtungswechsel überzeugend zu begründen. Das ist Schröder bei der Agenda 2010, vor allem gegenüber den eigenen Anhängern, nicht gelungen. Merkel und Rösler können daraus lernen. Sie müssen Ziel und Zweck ihrer Koalition neu definieren und formulieren. Rösler hat das versucht, als er den möglichen FDP-Verzicht auf Steuersenkungen mit den jüngsten Euro-Krisen begründete. Da habe sich gezeigt, wie wichtig ein solider Staatshaushalt ohne hohe Schuldenbelastung ist. Wenn Rösler diese Position beim Parteitag durchsetzt, könnte sie zu einem stabilen Baustein für das neue Schwarz-Gelb werden.

Sparen, wo es geht, und die staatlichen Investitionen auf die Energiewende konzentrieren - so etwa könnten ein neuer Koalitionsvertrag und eine neue Regierungserklärung überschrieben sein. Die Regierung Merkel/Rösler muss darauf setzen, dass die Katastrophe von Fukushima auch das Bewusstsein der Wähler von Union und FDP grundlegend verändert hat und sie deshalb bereit sind, eine ganz neue Politik zu akzeptieren.

"Seit Japan sind alle Erfolge der Koalition wie weggeblasen", hat CSU-Chef Seehofer nach der Wahlpleite von Baden-Württemberg beklagt. Mit etwas Glück für Schwarz-Gelb geraten durch Japan aber irgendwann auch Misserfolge und Blamagen in Vergessenheit - allerdings nur, wenn der Neuanfang überzeugt.