Eine Glosse von Iris Hellmuth

Wer nicht einverstanden war mit der Politik des Bundeskanzlers Gerhard Schröder, der hatte es im Grunde nicht schwer: Er musste ihn einfach reden lassen. Das war nämlich manchmal überhaupt nicht schön. Gerhard Schröder hatte ein Faible für das Tu-Wort "machen", er brachte es in nahezu jedem Satz unter, egal ob es um Reformen, Tore oder sonst irgendwas ging. Und selbst wenn er darauf verzichtete, waren seine Sätze nicht wirklich schön. Einmal sagte er sogar den folgenden: "Ich habe nie gern gelesen." Das fand man dann als Mensch und Leser doch irgendwie traurig.

Vorgestern Nachmittag saß ich in der U-Bahn, es waren nur wenige Stationen, also holte ich mein Smartphone aus der Tasche. Um etwas zu lesen. Wie man das halt so macht, dachte ich, wenn man kurz irgendwo sitzt. Dann fiel mein Blick auf die Menschen um mich herum. Fiel auf einen jungen Mann, der im Duden las. Fiel auf eine junge Frau, die ein Reclamheft in der Hand hielt.

Ich habe mich plötzlich sehr unwohl gefühlt. Im Moment selbst wusste ich gar nicht, warum. Aber nach ein paar Tagen Nachdenken weiß ich: Ich, Iris Hellmuth, überzeugte Printjournalistin mit einem Faible für das Tu-Wort "lesen", sollte mich schämen. Ich war an diesem Nachmittag unter den Lesern dieser Stadt ein kleiner Prolet, mehr noch: Ich war die Gertrud Schröder dieses U-Bahn-Abteils.