Es gab Momente im Leben dieser fünf Menschen, da fühlten sie sich dem Tod näher als dem Leben. Aufgegeben haben sie sich aber nie.

Barsbüttel. Diese Menschen haben Grenzerfahrungen hinter sich. Eine lange Krankheit, eine schwere Sucht, den Tod eines geliebten Menschen. Sie standen am Abgrund. Verzweifelt, mutlos und ohne Perspektive. Menschen wie Bruno Kollhorst, der ein neues Herz bekommen hat. Wie Jenny Brinckmann, die ihre Alkoholsucht besiegt hat. Wie Gudrun Schacht, die nach der Trauer um den Verlust ihres Mannes heute wieder glücklich ist. Menschen wie Paulina Tsagkalidis, die als Säugling einen Schlaganfall hatte und Donald Faske, der jahrelang drogenabhängig war.

Sie haben sich Schritt für Schritt zurück in ein Leben gekämpft, das sich heute wieder gut anfühlt.

Sie sagen: "Wir leben heute bewusster." Sie sagen auch: "Wir machen aus jedem Tag etwas Besonderes."

Aus der Erfahrung ungeheurer Schwäche ist ungeahnte Kraft erwachsen. Das Osterfest hat für diese Menschen deshalb wohl auch eine besondere Bedeutung. Die Auferstehung von Jesus Christus ist für sie jedes Jahr auch eine Erinnerung an ihren eigenen, ganz persönlichen Sieg.

Über jede Hürde

Sie ist ein Mensch, der andere zum Staunen bringt. Weil sie turnt und tanzt, musiziert und spielt, als wäre ihr nie im Leben etwas Ernstes zugestoßen. Für ihre Mitschülerinnen ist sie einfach Paulina, für ihre Eltern die größte Sorge und das größte Glück zugleich.

Dass die 13-Jährige ein gänzlich eigenständiges Leben führt, grenzt an ein kleines Wunder. Denn Paulina hatte einen Schlaganfall, als sie erst einen Tag alt war. Sie ist kaum 24 Stunden auf der Welt, als die Ärzte bei dem Säugling einen Schlaganfall diagnostizieren. Paulina schwebt in Lebensgefahr. Für die Eltern Angela und Benerios Tsagkalidis aus Barsbüttel ein Schock. "Wir wussten nicht, ob unsere Tochter ein Pflegefall sein wird, ob sie zur Schule gehen kann, laufen und sprechen lernen wird", sagt die Mutter. Paulinas linke Gehirnhälfte ist betroffen. Das Sprachzentrum ist zerstört, die rechte Hand funktioniert nicht.

Aber Paulina entwickelt sich. Nur dauert alles viel, viel länger. Mit zweieinhalb steht sie das erste Mal allein auf ihren Füßen, die ersten Schritte macht sie mit drei Jahren. Zweimal in der Woche bekommt sie Krankengymnastik. Paulina lernt Therapiedreirad fahren, schreiben, rechnen. Und sie lernt, mit den zunehmenden Anforderungen in der Schule zurechtzukommen. Denn bei Stress fangen plötzlich der Arm, die Hand, der Kopf an zu wackeln. Paulina muss dann den Druck runterschrauben. Sie muss lernen, die Dinge leichter zu nehmen.

Angela Tsagkalidis tut alles für ihre Tochter. Sie besucht Ärzte und Therapeuten. "Uns geht es darum, Paulinas Gehirn zu stimulieren", sagt sie. Physiotherapie, Ergotherapie, Logopädie und Neuropsychologie sind die Mittel dazu. Paulina macht große Fortschritte. Dass sie eine Schlaganfallpatientin ist, merkt man erst auf den zweiten Blick. Sie kann ihre rechte Hand nicht bewegen, das rechte Bein ist zwei Zentimeter kürzer als das linke. Seit ein paar Jahren muss sie täglich Medikamente nehmen, weil sie - eine Folgeerscheinung des Schlaganfalls - immer wieder epileptische Anfälle bekam.

Aber Paulina ist eine Kämpferin. Sie geht in die siebte Klasse, will ihren Hauptschulabschluss machen. "Ich spiele sogar Blockflöte", sagt sie nicht ohne Stolz. Paulina weiß, dass sie immer wieder Hürden im Leben überwinden muss, die ihr die Krankheit auferlegt hat. Und sie hat gelernt, dass jeder noch so kleine Schritt ein großer Erfolg ist.

Ein neues Herz

Manchmal kann er es gar nicht fassen. Dass er hier sitzt, in der Sonne. Seinen Sohn Mika auf dem Arm, und das Leben spürt, das ihn seiner Brust schlägt. Zuverlässig und im richtigen Takt. Er hätte dieses Leben fast verloren.

Bruno Kollhorst ist 38 Jahre alt. Ein sportlicher Typ mit einem herzlichen Lachen. Er genießt die Frühlingssonne, freut sich auf Ostern. Nichts ist für ihn selbstverständlich.

Bruno Kollhorst ist ein Mensch, der sagt: "Ich bin zweimal geboren." Am 11. August 1972 kommt er in München auf die Welt. Er wächst ohne seinen früh verstorbenen Vater auf. Mit zwölf Jahren stirbt seine Mutter, er zieht zu seiner Tante nach Flensburg, macht das Abitur, studiert. Er ist ein ehrgeiziger Typ, Marketingexperte, einer, der für seinen Job lebt. Bis zu 60 Stunden verbringt er im Büro. Er ist fit. Und gesund. Das glaubt er zumindest. Was er nicht ahnt: Er trägt eine Rötelninfektion im Körper, die eine Entzündung des Herzmuskels zur Folge hat.

Er ist 31 Jahre alt, als er das erste Mal im Büro zusammenklappt. Die Ärzte stellen fest, dass sein Herz nur noch zwölf Prozent seiner Leistung erbringt. Kollhorst muss Medikamente nehmen, bekommt einen Herzschrittmacher. Es geht ihm besser, dann wieder schlechter. Es vergehen Wochen, es vergehen Monate. 2006 stellen die Ärzte fest, dass Kollhorst nicht mehr therapierbar ist. Er braucht ein neues Herz. Und zwar sehr schnell. "Ich wusste, das wird ein schwieriger Eingriff. Aber ein Ende ist in Sicht. So oder so. Die zweieinhalb Jahre vor der Transplantation waren nur noch Siechtum."

Am 8. September 2006 wird Bruno Kollhorst ein zweites Mal geboren. Die Ärzte im UKE transplantieren dem damals 35-Jährigen ein neues Organ. Mit Erfolg. Zwölf Stunden nach dem Eingriff spürt er zum ersten Mal die ungewohnte Kraft des neuen, gesunden Herzmuskels. "Mein Herz tanzt Tango", war sein erster Gedanke. "Während der Körper noch schläft."

Für Bruno Kollhorst beginnt mit dem neuen Herz ein neues Leben. Er heiratet, bekommt einen Sohn. Und versucht anderen zu helfen, denen es ähnlich geht wie ihm. Ein wichtiger Teil seines Lebens ist der Verein "Music for Life", den Kollhorst 2008 mit anderen Betroffenen und Akteuren aus der Musikbranche gegründet hat. Er soll die Öffentlichkeit auf musikalischem Wege auf das Thema Organspende aufmerksam machen.

"Ich nehme das Leben bewusster wahr", sagt er. "Ich versuche, aus jedem Tag etwas Besonderes zu machen." Die Konfrontation mit dem Tod hat ihn gelehrt, das Leben gelassener zu sehen. Bedeutete Regen früher nur schlechtes Wetter, so ist er heute froh, dass er die Tropfen auf seiner Haut spüren darf.

Die Sucht besiegt

Sie hat sich verändert. Sie ist schlanker geworden, die dunklen Haare hat sie blond gefärbt. Gerade hat sie den Abwasch gemacht. Jetzt sitzt Jenny mit ihrer Mutter im Wohnzimmer. Sie machen Pläne für die Zukunft. Jenny will ihren Schulabschluss machen. Sie hat sich viel vorgenommen.

Jenny ist 16 Jahre alt. Sie hat eine steile Suchtkarriere hinter sich. Jenny war alkoholabhängig. Mit neun Jahren greift sie das erste Mal zur Flasche. Aus einem Glas Bacardi Breeze wird eine Flasche Wodka. Aus "manchmal am Wochenende" wird fast jeder Tag. Aus der Ausnahme wird die Regel.

Jenny schwänzt die Schule, hängt stundenlang auf der Straße rum, zieht andere Mädchen ab und macht Party. Party - das heißt: saufen. "Wir sind nachmittags in den Supermarkt, haben uns mit Wodka, Cola, Whisky und anderem Stoff eingedeckt und getrunken", sagt sie. Zu Hause, auf der Straße, im Park. Mitten am Tag.

Mit 13 Jahren kommt sie regelmäßig sturzbetrunken nach Hause. Mit 14 säuft sie sich mehrfach ins Koma. Sie will nicht mehr leben, droht, sich umzubringen. Die Mutter zieht die Notbremse. Sie lässt ihre Tochter in die Jugendsuchtstation des UKE einweisen. Anschließend verbringt sie ein halbes Jahr in einer therapeutischen Wohngruppe in Stralsund. "Vier Wochen hat es gedauert, bis ich mich in Stralsund eingelebt habe", sagt Jenny. "Ich wollte einfach nur weg." Immer wieder verstößt sie gegen die Regeln des Hauses, schmuggelt Handys rein, haut ab. Sie bekommt Kontaktverbot und eine Ausgangssperre. Und bleibt schließlich zwangsläufig in der Einrichtung.

"Irgendwann habe ich aufgegeben, mich zu wehren. Und plötzlich war alles gar nicht mehr so schlimm", sagt Jenny. Sie findet eine Therapeutin, mit der sie reden kann. Der sie alles, wirklich alles, erzählen kann. Von ihren Ängsten in der Schule, von der Trennung ihrer Eltern und dem Gefühl, verlassen worden zu sein. Von den Menschen, die sie enttäuscht haben und den Perspektiven, die es für sie als Schulschwänzerin und Alkoholabhängige nicht gibt.

In Stralsund lernt Jenny, dass auch sie sich an Regeln halten muss. Sie muss Wäsche machen, kochen, putzen. Sie lernt auch, dass es Konsequenzen gibt, wenn man sich nicht an Regeln hält. Und sie lernt, dass der Alkohol gar nicht so wichtig ist. "Ich habe erfahren, dass ich auch ohne Wodka lachen kann. Ich habe so viel Spaß gehabt."

Jenny nimmt sich fest vor, sich zu ändern. Ihr Leben zu ändern. Sie hat Pläne, will ein Berufsvorbereitendes Jahr machen und ihren Hauptschulabschluss. Wenn es ihr schlecht geht, hört sie Bushido, "Alles wird gut". In dem Lied heißt es: "Und wenn sie meinen, du stehst nie wieder auf, dann lass sie reden Junge, zeig ihnen, das ist dein Traum, du wirst ihn leben, und beweist diesen Leuten, die niemals an dich geglaubt haben, das was sie haben, kannst du auch haben".

Das ist ihre Hymne.

In Gottes Hand

Manchmal reicht es, wenn da ein Mensch ist, der sich kümmert. Im Fall von Donald Faske , 33, war dieser Mensch ein Pastor. Der hat dem jungen Erfurter vor Jahren geholfen, im Leben wieder Fuß zu fassen. Er hat ihm den christlichen Glauben näher gebracht. Und er hat sich dafür eingesetzt, dass Donald Faske seine Heimatstadt verlässt. Dass er wegkommt von den falschen Freunden.

Fernab von zu Hause machte Donald Faske eine Therapie. Als junger Mann war er drogenabhängig, immer wieder gab es Rückfälle. "Es waren die gängigen Teenagerdrogen", sagt er. Seine Cannabis-Sucht führte nicht nur dazu, dass sein Körper krank wurde und seine Seele litt. Er wurde auch straffällig, brach seine Ausbildung zum Schreiner ab, verlor sein Zuhause. Das Leben ist ihm damals, Ende der 1990er Jahre, entglitten.

Nach der Therapie auf einem Bauernhof und einer Ausbildung zum Schreiner im Geistlichen Rüstzentrum Krelingen hat er wieder Boden unter den Füßen. Der Liebe wegen war er vor fünf Jahren nach Hamburg gezogen. Er ist bei sich angekommen, lebt auf St. Pauli, hat Arbeit als Schreiner in der Luftfahrtindustrie. Und zu Ostern fährt er zu seiner Mutter nach Erfurt. Das Verhältnis ist nach Jahren der Entfremdung wieder in Ordnung.

Nun möchte Donald Faske etwas zurückgeben. "Ich habe sehr viel Hilfe von der Kirche erfahren. Jetzt muss ich mich revanchieren." Faske, der in Erfurt in einer Freien Gemeinde war, ist in die evangelische Kirche eingetreten. "Das, was der Staat für meine Ausbildung ausgegeben hat, möchte ich in Form von Steuern zurückzahlen. Das, was die Kirche für mich getan hat, gebe ich durch meinen Eintritt zurück." Im Jesus-Center im Schanzenviertel hat er sich ehrenamtlich engagiert. "Das möchte ich gern weiter ausbauen." Gläubig, sagt er, war er immer schon. Vor allem als Kind. Doch in der Jugend spielte Gott keine so große Rolle. "Aber in der Krise kam der Glaube zurück", sagt Donald Faske. "Ich war erstaunt zu erfahren, dass die Menschen in Europa noch immer an Gott glauben." In den Gottesdienst der Hauptkirche St. Petri geht er regelmäßig. Lieber abends. "Sonntagmorgens schaffe ich es nur manchmal."

Im Leben zurück

"Träume nicht dein Leben, sondern lebe deinen Traum". Gudrun Schacht hat über solche Sprüche früher nur schmunzeln können. Früher, bevor das Unvorstellbare passierte. Früher, als die Familie noch komplett war und die Schachts jedes Wochenende auf den Hamburger Hockeyplätzen anzutreffen waren. Gudrun mit ihrem Mann Olliver und den beiden Kindern Philipp und Vanessa. Sie waren eine glückliche Familie, so wie im Bilderbuch. Alles war perfekt. Und für Gudrun Schacht selbstverständlich. Bis der Unfall kam. Von einer Sekunde auf die andere wurden Gudrun Schacht und die Kinder völlig aus der Bahn geworfen.

Es ist der 29. Februar 2004. Wahlsonntag in Hamburg. Olliver steht mit seiner Hockeymannschaft auf dem Platz. Er ist 42 Jahre alt, sportlich und gesund. Auch deshalb kümmert er sich nicht darum, als er plötzlich ein Stechen in der Brust spürt. Er spielt weiter. Auf dem Rückweg bricht er auf dem Beifahrersitz zusammen. Er hat einen Herzinfarkt. Alle Wiederbelebungsversuche scheitern.

Aus der glücklichen Ehefrau Gudrun Schacht wird eine Witwe. 39 Jahre alt, Mutter von zwei Kindern. Nichts ist mehr, wie es war. "Ich habe nur noch funktioniert", sagt sie. "Ich habe aufgehört zu leben. Ich habe überlebt. Aber irgendwie macht man weiter."

Der Kontakt zu anderen verwitweten Müttern und Vätern, die sie über den Verein verwitwet.de e.V. kennenlernt, hilft ihr, Gefühle zu äußern, den Verlust zu verarbeiten. "Irgendwann habe ich wieder angefangen, Pläne zu machen", sagt sie. "Ich habe wieder nach vorn geschaut und nicht mehr nur zurück." Über eine Kontaktanzeige lernt sie Bernd kennen, Vater von zwei Kindern, verwitwet. Die beiden telefonieren. Aus einem Telefonat wird ein Treffen. Aus einem Treffen wird eine neue Beziehung. Aus Gudrun und Bernd wird ein Paar.

Heute leben sie zusammen und genießen jeden Tag, weil diese gemeinsame Zeit eben nicht selbstverständlich ist. Im Mai möchte Gudrun Schacht eine Ausbildung zur Trauerbegleiterin beginnen. Sie möchte Menschen helfen, ihre Trauer zu verarbeiten. Sie will trösten und zeigen, dass es weitergeht. Das beste Beispiel dafür ist sie selbst.