Das neue Wahlrecht erhöht den Einfluss der Bürger. Wenn einzelne Kandidaten statt Parteilisten zur Wahl stehen, sinkt die Gefahr von Korruption, meint der Ökonom

In Hamburg waren zuletzt knapp 1,3 Millionen Hamburger aufgerufen, die Bürgerschaft zu wählen. Die Hamburger Wahl war auch spannend, weil ein neues Wahlrecht angewandt wurde. Erstmalig konnten die Wähler auf allen Stimmzetteln nicht nur für Parteien votieren, sondern für Individuen. So konnten sie Kandidaten bis zu jeweils fünf Stimmen geben (ihre Stimmen "kumulieren"), aber auch für Kandidaten über Parteigrenzen hinweg stimmen ("panaschieren").

Das neue Hamburger Wahlrecht geht zurück auf Volksinitiativen. Die Initiatoren hatten beabsichtigt, die Macht der Parteien zu beschränken. Denn bisher legen allein Parteitage fest, wer überhaupt eine Chance hat, ins Parlament einzuziehen und wer nicht. Und bei den Entscheidungen spielen Parteiloyalität und Engagement für die Partei möglicherweise eine wichtigere Rolle als Loyalität und Engagement für die Bürger. Bisher bedeutete eine schlechte Listenplatzierung das Aus für viele parlamentarische Träume. Das neue Wahlgesetz hat dies grundlegend geändert. Ein bei den Bürgern geschätzter Kandidat kann sich noch immer Chancen ausrechnen, auch wenn er bei den Parteioberen in Ungnade gefallen ist.

Parteimanagern muss das neue Wahlrecht missfallen, reduziert es doch ihre Macht. Gegenargumente waren schnell bei der Hand: Es drohe eine Amerikanisierung der Wahlkämpfe, nur Kandidaten mit entsprechender finanzieller Ausstattung hätten noch eine Chance, ins Parlament zu ziehen. Und Wähler seien überfordert, schließlich könne niemand die Aussagen von Dutzenden von Kandidaten kennen und miteinander vergleichen. Um ihren Einflussverlust in Grenzen zu halten, ließen einige Parteien sich "Verpflichtungserklärungen" von ihren Kandidaten unterzeichnen. Bekannt geworden ist die der SPD. Ganz unverblümt heißt es darin, dass vermieden werden müsse, dass die von der Partei entschiedene Reihung der Kandidaten durch die Wähler verändert werde. Politikverdrossenheit ist vor allem auch Parteienverdrossenheit. Parteien täten gut daran, sich auf das neue Wahlrecht einzulassen, statt es zu untergraben. Offene - von den Wählern gestaltbare - Kandidatenlisten sind ein Novum auf Landesebene, auf kommunaler Ebene gibt es sie zum Teil seit Jahrzehnten. Auch in anderen Ländern der Welt werden offene Listen zum Teil seit vielen Jahren genutzt. Und die Erfahrungen mit ihnen sind sehr ermutigend.

Wenn einzelne Kandidaten gewählt werden können, dann sind sie ihren Wählern gegenüber verantwortlicher. Sie haben dann mehr Anreize, sich um die Interessen ihrer Wähler zu kümmern, denn sonst müssen sie damit rechnen, nicht wiedergewählt zu werden. Anders bei Parteilisten: Hier kann sich jeder Kandidat hinter der Partei verstecken. Das bedeutet einerseits, dass es weniger Anreize gibt sich anzustrengen. Das bedeutet andererseits, dass Parlamentarier viel mehr ihren eigenen Vorteil verfolgen werden.

Das sind theoretische Überlegungen. Können sie empirisch erhärtet werden? Zusammen mit drei Kollegen habe ich Wirkungen von Wahlsystemen aus bis zu 90 Ländern analysiert. Die Offenheit von Parteilisten war eine Variable, die uns interessiert hat. Die Ergebnisse sind erstaunlich: Je offener die Listen, desto geringer der Umfang von Bestechung und Korruption. Dieses Ergebnis ist ziemlich robust, es bleibt also bestehen, wenn man Variable anders abgrenzt, andere Erhebungszeiträume zugrundelegt und so fort. Fast noch erstaunlicher: Offene Listen führen auch zu höherer Produktivität in der Wirtschaft. Pro Arbeitsstunde wird also mehr hergestellt. Wie kann das sein? Es könnte etwa sein, dass die höhere Verantwortung der Parlamentarier ihren Wählern gegenüber dazu führt, dass diese tatsächlich bessere - produktivitätsfördernde - Gesetze verabschieden.

Eine andere Variable, die wir analysiert haben, war übrigens die Wahlkreisgröße. Je mehr Parlamentarier ein Wahlkreis entsendet, desto größer ist er. Hier zeigen sich ebenfalls robuste Effekte: je größer der Wahlkreis, desto höher Bestechung und Korruption. Je größer der Wahlkreis, desto geringer die Produktivität. Es könnte zweckmäßig sein, über die Verkleinerung von Wahlkreisen nachzudenken. Das würde den Kontakt zwischen Bürgern und Parlamentariern erhöhen - und damit die Verantwortlichkeit der Parlamentarier ihren Wählern gegenüber.

In der Bundesrepublik ist Hamburg auf Landesebene Vorreiter mit dem neuen Wahlrecht. Bremen folgt im Mai. Eine Möglichkeit, Parteiverdrossenheit zu bekämpfen, könnte darin bestehen, dass Parteien dafür sorgen, dass ähnliche Gesetze auch in anderen Bundesländern verabschiedet werden. Parteien könnten zeigen, dass sie nicht nur auf Volksinitiativen reagieren - sondern selbst initiativ werden können.