Wir verstehen die Ungerechtigkeit der Welt nicht und beklagen die Untätigkeit Gottes. Die Karwoche vor Ostern liefert jedem Antworten, sagt der Pastor

Eppendorfer Baum, Ecke Lehmweg. Vor Wochen geschah hier der schreckliche Verkehrsunfall. Nun türmen sich immer noch Blumen und Kerzen, Fotos und anrührende letzte Grüße. Und über allem schwebt die hilflose Frage "Warum?"

50 Meter weiter: An grünen Zweigen baumeln bunt bemalte Eier und Osterhasen aus Holz, ein frühlingshaftes, fröhliches Bild. Aber wir haben nicht Ostern. Noch nicht.

Vor das lichthelle Auferstehungsfest hat die christliche Tradition "Karwoche" in unsere Kalender geschrieben, den Namen jener stillen Woche der Klage. Sieben Tage in Moll - muss das heute immer noch sein? Haben wir mit Unfällen und Krankheit, Fukushima und Kriegswirren nicht schon genug zu tragen? Täte uns nicht mehr Leichtigkeit gut?

Seien wir realistisch: Das Leben ist kein Rosengarten und kein Streichelzoo. Es kann auch hart, schmerzhaft, bedrohlich und traurig sein. Das alles hat seine Zeit. Darum können wir nicht ganzjährig Weihnachtsbäume schmücken oder Eier bemalen, als nähmen wir die Probleme der Welt nicht zur Kenntnis. Wir können nicht pausenlos shoppen, feiern und Schweres verdrängen, das wäre kurzsichtig und ungesund.

Stattdessen ist es sinnvoll und heilsam, sich einmal im Jahr der Leidensgeschichte Jesu zuzuwenden, wie sie in der Karwoche bedacht und begangen wird. Zugegeben: Die Passionsgeschichte ist harter Tobak. Gründonnerstag geht es um Abschiedsmahl und Freundesverrat, Einsamkeit und Zweifel, am Karfreitag um Kreuzestod und Grablegung, am stillen Karsamstag um Trauer und Grabesruhe.

Freunde und Verwandte treten auf, Soldaten und Terroristen, Beter und Zyniker, Geistliche und natürlich Neugierige, die immer gaffen, wenn etwas passiert. Dazwischen der sterbende Jesus, der noch am Kreuz für seine Mörder betete: "Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun." Und später zum Himmel schrie: "Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?"

Da ist es wieder, dieses hilflose "Warum?", das überall geschrieben steht, wo Autos Menschen töten, wo Kinder umgebracht werden, wo wir die Ungerechtigkeit der Welt nicht verstehen und die Untätigkeit eines Gottes beklagen. Auch bei dem Mann am Kreuz klingt es nach Kapitulation auf der ganzen Linie. Aber Jesus ruft in seiner tödlichen Verlassenheit gerade nicht: "Es gibt keinen Gott!", sondern redet ihn mit "Du" an und rechnet mit ihm.

Er betet mit seinem Aufschrei den 22. Psalm, gewissermaßen ein Gesangbuchlied seiner Zeit. Er kennt für seine Verzweiflung eine vertrauenswürdige Adresse. Was haben wir davon? Warum sollten wir uns in der Karwoche 2011 - nach 2000 Jahren - mit diesem Opfer eines bedauerlichen Justizirrtums beschäftigen und dazu eventuell sogar eine Kirche betreten? Offenbar ist an diesem leidenden Jesus, an den Texten und Gesängen von Liebe und Schmerz etwas dran, was viele Menschen im Innersten berührt. Offenbar fasziniert es sie, dass es hier nicht um eine Majestät geht, die in ferner Höhe über uns thront, sondern um einen Menschen, der wie wir leidet und uns zu einem glaubwürdigen Bruder in der Tiefe wird.

Auch darum ziehen in der Karwoche Tausende Hamburger in die Kirchen, um die Leidensgeschichte Jesu in den Passionen Johann Sebastian Bachs oder den Oratorien anderer Komponisten mitzuerleben. Etwa um den beeindruckenden Schlusschoral nach Paul Gerhardt zu hören, in dem es heißt:

"Wenn ich einmal soll scheiden,

so scheide nicht von mir,

wenn ich den Tod soll leiden,

so tritt du dann herfür;

wenn mir am allerbängsten

wird um das Herze sein,

so reiß mich aus den Ängsten

kraft deiner Angst und Pein."

Die Texte und Melodien der Karwoche sind etwas, was die Angst und das Leiden vieler Menschen anspricht und auffängt, sie können an Krankenbetten und in Hospizen auch heute aktuell und tröstend sein.

Das mag Lesern, die zu diesen religiösen Inhalten keinen Zugang haben, fremd sein. Aber das braucht diese Menschen doch nicht davon abzuhalten, sich den Ritualen der Karwoche einmal unbefangen zu nähern und ihre eigenen spirituellen Erfahrungen damit zu machen.

Und wem die Karwoche allzu traurig ist, der sollte nicht vergessen: Sie ist der unerlässliche Auftakt für eine nachhaltige Osterfreude. Ostern wird alles anders und das Kreuz zum Siegeszeichen über den Tod.