Der ungehinderte Zugang aller EU-Mitglieder zum deutschen Arbeitsmarkt ab dem 1. Mai verlangt Mindestlöhne und eine aktive Politik, mahnt der Gewerkschafter

Das Wort sollte eigentlich Sympathien wecken: Arbeitnehmerfreizügigkeit. Ab dem 1. Mai gilt sie nun auch in Deutschland: Alle Arbeitnehmer aus allen Mitgliedstaaten der EU erhalten ungehinderten Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt. Das ist grundsätzlich begrüßenswert in einem zusammenwachsenden Europa, in dem die grenzenlose Freiheit gerade nicht nur für Waren und Unternehmen gilt, sondern vor allem für die Menschen.

Aber wir wollen auch ein soziales Europa. Und natürlich gibt es berechtigte Ängste vieler Menschen in Zeiten immer noch hoher Arbeitslosigkeit und prekärer Beschäftigung, ob nicht zusätzliche Arbeitskräfte aus dem Ausland ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt verschlechtern.

Rechte Rattenfänger schüren diese Ängste seit Jahrzehnten: "Die Ausländer nehmen uns die Arbeitsplätze weg." Diese Parolen waren schon immer falsch. Denn volkswirtschaftlich hat die Höhe der Arbeitslosigkeit wenig zu tun mit der Zahl der Arbeitskräfte in einem Land.

Vor allem auf einem regulierten Arbeitsmarkt gilt: Zusätzliche Arbeitskraft schafft zusätzliche Wertschöpfung schafft zusätzliche Arbeitsplätze. Wir brauchen eine beschäftigungsorientierte Wirtschaftspolitik und eine Tarifpolitik, die die Binnennachfrage stärkt. Und ein Tabu muss endlich wieder gebrochen werden: die gerechtere Verteilung von Arbeit durch Arbeitszeitverkürzung. Was heißt das für die Politik?

Es ist ein Irrtum, dass der Fachkräftemangel sich hierzulande durch die demografische Entwicklung von selbst auflösen würde. Er ist die logische Folge jahrzehntelanger Vernachlässigung von Aus- und Weiterbildung durch die meisten Unternehmen in Deutschland. Dieses Versäumnis ist kurzfristigen Kostenkalkülen geschuldet - und das droht sich jetzt bitter zu rächen.

Es wäre unsolidarisch und politischer Zynismus, mehrere Zehntausend Langzeitarbeitslose in Hamburg als "nicht integrierbar in den ersten Arbeitsmarkt" zu diskreditieren und nun das Heil in der Grenzöffnung des Arbeitsmarktes nach Osteuropa zu suchen. Deshalb brauchen wir jetzt endlich verstärkte Anstrengungen und verbindliche Vorgaben für die Aus- und Weiterbildung aller Jugendlichen und Erwachsenen, ganz gleich woher sie kommen.

Und die Politik ist noch mehr gefordert: Denn so unbegründet die Ängste vor der Zuwanderung grundsätzlich sind, so berechtigt ist hingegen das Misstrauen gegenüber Arbeitgebern, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gegeneinander ausspielen und die Löhne weiter drücken. Denn noch besteht bei uns in den meisten Branchen gegenüber osteuropäischen EU-Ländern ein deutliches Lohngefälle. Dies verschärft die Gefahr des seit Jahren grassierenden Lohndumpings in Deutschland. Aktuelle Berichte über massenhafte Werkverträge mit osteuropäischen Billigkräften vergrößern diese Gefährdung.

Die Bundesregierung muss sich endlich zu einer Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik durchringen, die gleichermaßen im Interesse aller Arbeitnehmer und der Unternehmen ist. Das bedeutet: gute und qualifizierte Arbeit statt Billigjobs durch eine Stärkung der Aus- und Weiterbildung sowie gezielte Investitionen in Zukunftsbranchen, die Geltung von Tariflöhnen, die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns von 8,50 Euro pro Stunde und die Regulierung und Begrenzung der Leiharbeit, vor allem die Geltung von "equal pay" ("gleicher Bezahlung") vom ersten Tag an. Gefordert ist auch der neue Senat. Den Worten im Regierungsprogramm müssen jetzt Taten folgen: Die Aus- und Weiterbildung, zum Beispiel im Pflegebereich, müssen gestärkt werden.

Der Druck auf die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns muss weiter erhöht werden. Lohndumping muss durch die Kontrolle bestehender Branchenmindestlöhne und Arbeitsgesetze verhindert werden. 8,50 Euro Mindestlohn und konsequente Tariftreue gehören wie in Rheinland-Pfalz in das Vergabegesetz. Und nicht zuletzt brauchen wir gezielte Informations- und Unterstützungsangebote in den Bereichen Rechtsberatung, Integration, Weiterbildung und Sprachförderung für die Arbeitnehmer aus den anderen EU-Ländern.

Fazit: Wenn die Politik für entsprechende Rahmenbedingungen auf dem Arbeitsmarkt sorgt, kann die Arbeitnehmerfreizügigkeit ein Gewinn für uns alle werden.

Europa wäre für die Menschen keine Bedrohung, sondern die Chance für soziale Gerechtigkeit ohne Grenzen.

Wolfgang Rose, 63, ist Ver.di-Landesbezirksleiter und SPD-Bürgerschaftsabgeordneter