Mehrere Hundert Einzelsubstanzen sind in Heilpflanzen enthalten. Sie optimieren die Wirksamkeit

Prof. Volker Fintelmann ist Vorstand des Trägervereins Carl Gustav Carus Akademie für eine erweiterte Heilkunst. Von 1978 bis 1989 war er Mitglied der Zulassungs- und Aufbereitungskommission E für Phytotherapie beim Bundesgesundheitsamt, seit 1982 als Vorsitzender.

Hamburger Abendblatt:

Warum brauchen wir heute noch Pflanzenheilkunde?

Prof. Fintelmann:

Mit der Phytotherapie, der Pflanzenheilkunde, werden Indikationen abgedeckt, die im Moment in der Schulmedizin kaum abzudecken sind: das ganze Spektrum der funktionellen Krankheiten, Erkrankungen also, für die es keine nachweisbaren körperlichen Befunde gibt. Das ist ein großes Thema. Ob es sich dabei um Reizblase oder Reizdarm handelt oder um Herzjagen, bei dem der Kardiologe nichts findet und dann Betablocker verschreibt. Gerade für diese funktionellen Störungen sind pflanzliche Arzneimittel hoch geeignet. Wir kommen langsam wieder dahin, auch die Befindlichkeitsstörungen eines Menschen wieder ernst zu nehmen.

Wie wirken Pflanzen als Heilmittel?

Fintelmann:

Das Geheimnis der Pflanzenheilmittel liegt in der Mischung von sehr vielen Stoffen. Darunter sind viele, die erst dafür sorgen, dass die Wirkstoffe verträglich werden. Einzelstoffpräparate sind ja problematisch, weil es darunter kaum eines gibt, das nicht auch eine Fülle von unerwünschten Wirkungen hat. Eine wirksame Pflanze hat ungefähr 300 bis 600 chemisch definierte Einzelstoffe. Diese Begleitstoffe sind wichtig, zum Beispiel für die Aufnahme und Verarbeitung im Körper.

Wie kann man sich das vorstellen?

Fintelmann:

Oft sind die Inhaltsstoffe sogenannte Pro-Drugs, sie werden also erst in der Leber in den eigentlichen Wirkstoff umgewandelt. Ein schönes Beispiel ist der Extrakt der Weidenrinde. Er enthält Salicylsäure, die erst in der Leber in die bekannte Acetylsalicylsäure, bekannt als ASS, umgebaut wird. So kann die für die Magenschleimhaut problematische Einnahme von ASS umgangen werden. Die Verträglichkeit wird deutlich besser.

Wie sollte man pflanzliche Arzneimittel einnehmen - als Tee oder in Tabletten, die Pflanzenextrakte oder einzeln isolierte Wirkstoffe enthalten?

Fintelmann:

Bei definierten Krankheiten brauchen wir pflanzliche Arzneimittel mit einer klaren stofflichen Zusammensetzung. Ich halte den Tee aber nach wie vor für eine ganz wichtige Arzneiform, besonders bei Kindern, bei alten Menschen und als selbst zubereitetes warmes Getränk. Zum Beispiel nach einer Grippe: Da können die Bitterstoffe eines Wermuttees den Kopf klar machen. Da ist auch die emotionale Qualität sehr wichtig: "Es kümmert sich jemand um mich!"

Was ist wichtig, wenn man sich selber mit Pflanzen behandeln möchte?

Fintelmann:

Ich liebe den Begriff der "beratungsgestützten Selbstmedikation". Man sollte sich Rat holen. Das kann der Arzt sein, wenn man das Glück hat, dass der einem etwas erzählt, also zum Beispiel: "In Ihrem Fall würde ich es erst mal mit Johanniskraut versuchen." Heute ist der Apotheker allerdings der breiter angelegte Ansprechpartner für Rat suchende Patienten und auch Heilpraktiker sind oft gute Pflanzenheilkundler. Und dann gibt es mittlerweile viele sehr gute Bücher, mit denen man sich informieren kann.