Die EU-Staaten dürfen Italien mit dem Migrantenstrom nicht alleinlassen. Feste Aufnahmequoten könnten das Problem lindern, meint die Ex-Staatssekretärin

Für Fernsehbilder von überfüllten Booten und wackligen Zelten sind sie gut, für mehr auch nicht, die Flüchtlinge auf Lampedusa. 22 000 Menschen haben in den vergangenen Wochen die kleine Insel erreicht, über 500 (die Opfer des schweren Unglücks vom 6. April eingerechnet) ertranken auf der Überfahrt. Silvio Berlusconi spricht von einem "menschlichen Tsunami", angesichts des Leides der Japaner als Folge der Naturkatastrophe ein unzulässiger Vergleich! Italien dringt in Verhandlungen auf die Bereitschaft Tunesiens, täglich 100 Migranten zurückzuholen. Von Hilfen zur Unternehmensförderung ist die Rede und vom Aufbau eines Radarsystems für die Küstenwache zur Ortung von Flüchtlingsbooten.

Keine Frage: Die italienische Flüchtlingspolitik in ihrer Mischung aus Panikmache, schlechter Koordination und rigider Abwehr ist kritikwürdig. Das Desinteresse der übrigen EU-Staaten aber auch! Die Zahl der Flüchtlinge ebbt leicht ab, doch wer kennt schon die weitere Entwicklung in dieser Phase politischer Umwälzungen in den Staaten Nordafrikas?

Mit neuen Flüchtlingsströmen, etwa aus Libyen, ist zu rechnen. Zwar kommen viele Migranten nicht als Asylsuchende, also nicht als politisch Verfolgte, sondern als Armutsflüchtlinge. Die Tunesier nutzen die neue Freiheit nach dem Umsturz, um lang gehegte Hoffnungen auf ein besseres Leben in Europa zu verwirklichen. Das heißt aber auch, dass die Absprachen der EU, nach denen ein Flüchtling den Asylantrag in dem Mitgliedstaat zu stellen hat, in dem er zuerst landet, kaum greifen. Hier geht es erst einmal um die Linderung menschlichen Elends.

Als Beobachter der Ereignisse am Südrand des Kontinents verharren die Staaten West-, Mittel- und Nordeuropas, Deutschland eingeschlossen, in komfortabler Distanz. "Wir können nicht für alle Flüchtlinge unsere Tore öffnen", heißt es. "Bloß keine Anreize schaffen! Wirtschaftliche Hilfe für die Herkunftsländer und die energische Bekämpfung des Schlepper-Unwesens sind das Gebot der Stunde."

Stimmt alles. Nur: Bis Finanzspritzen für Unternehmen und bessere Ausbildung Wirkung zeigen, vergeht Zeit. Das humanitäre Drama um die Flüchtlinge jedoch spielt sich hier und heute ab! Und Anreize vermeiden? Das europäische Festland bleibt ein permanenter Anreiz, solange es ein starkes Wohlstandsgefälle zwischen den nordafrikanischen Ländern und den EU-Staaten gibt. Menschenschmuggler werden weiterhin für ihre gefährlichen Transportwege Kundschaft finden.

Was heute ein Problem Italiens ist, kann demnächst wieder Griechenland oder Spanien treffen, wie schon oft in den vergangenen Jahren. Die Flüchtlingsbewegungen übers Mittelmeer sind eine Herausforderung für ganz Europa.

Und wenn sich die Lage krisenhaft zuspitzt wie jetzt, während der Bürgerrevolten in der arabischen Welt, wäre schon spontane Hilfsbereitschaft angebracht. Um der Menschen willen.

Sie streben aufs Festland, hoffen, in Frankreich oder weiter nördlich Fuß zu fassen. Viele dürften untertauchen und in den illegalen Arbeitsmarkt einsickern. Da lohnt es sich doch, über Alternativen nachzudenken. Vor mehr als zehn Jahren, auf dem Höhepunkt des Kosovo-Konflikts, einigten sich europäische Länder auf eine Lastenteilung mittels einer Quote. Je nach Größe und Aufnahmekapazität übernahmen sie eine bestimmte Anzahl an Flüchtlingen für einen begrenzten Zeitraum. "Temporary protection", vorläufiger Schutz, heißt dieses flüchtlingspolitische Prinzip. Es erlaubt, binnen einer Frist Chancen für die Migranten auf einen dauerhaften Aufenthalt auszuloten - auch wenn viele nicht bleiben können. Auch Deutschland machte damals mit. Überfordert hat es uns nicht.

Noch sinnvoller wäre es, wenn die EU sich in Zusammenarbeit mit den Herkunftsländern auf eine begrenzte Aufnahmequote für besonders qualifizierte junge Leute einigen und im Übrigen gemeinsam mit den dortigen Behörden Anlaufstellen schaffen würde, in denen potenzielle Auswanderer über die geringen Aussichten auf eine dauerhafte Übersiedlung nach Europa aufgeklärt werden. Damit wäre der Ansturm noch nicht gestoppt, aber etwas mehr Ordnung geschaffen. Und Europa hätte ein Signal der Solidarität gegenüber denjenigen gezeigt, die mit mutigen Bürgerprotesten Demokratisierungsprozesse ermöglicht haben.