Jeder Schritt bereitet ihr Mühe. Schwer auf ihren Gehwagen gestützt, schleppt sich Angelika B. in den Gerichtssaal. Eine gebrechliche Frau mit grauem Haar und tiefen Falten, mit blasser Haut und verhärmten Zügen. Die Hamburgerin wirkt älter als ihre 60 Jahre. Das liegt ganz sicher auch an dem Alkohol. Doch vor allem ist ihr schlechter körperlicher Zustand einem schweren Sturz geschuldet. Etwa acht Meter tief war die Frau in einen Fahrstuhlschacht gefallen und musste dort unten ausharren, wimmernd, stöhnend, immer wieder in die Bewusstlosigkeit abgleitend, mit massiven Verletzungen, die ihren Tod hätten bedeuten können.

Sie hätte wohl früher gerettet werden können, wenn ihr Bekannter Peter E. besser reagiert hätte. Wenn er Hilfe geholt hätte - statt wegzulaufen. Knapp anderthalb Jahre sind seit diesem schicksalhaften Tag vergangen. Immer wieder sind sich die 60-Jährige und ihr ein Jahr älterer Bekannter begegnet, in dem Hochhaus im Bezirk Wandsbek, in dem die Frau in die Tiefe fiel, in dem beide nach wie vor leben. Man grüßt sich als Nachbarn, für mehr reicht es nicht mehr. Und auch jetzt, im Prozess vor dem Amtsgericht, würdigen sich die beiden kaum eines Blickes. Er, der Angeklagte wegen der Ereignisse vom 2. Oktober 2009, der sich wegen unterlassener Hilfeleistung verantworten muss. Und sie, die Verletzte.

Hier im Prozess ringt der 61-Jährige um eine Erklärung für sein kopfloses Verhalten. Es habe an jenem Tag mit Angelika B. Streit wegen ihrer Katze gegeben, erzählt der zierliche Mann mit dem Zauselbart. "Die Frau hat rumpalavert und gezetert. Ich sagte, sie solle aufhören, rumzukrakeelen. Wie es dazu kam, dass sie gegen den Fahrstuhl gestolpert ist, verstehe ich nicht", erzählt der Angeklagte. "Es gab keinerlei Körperkontakt." Plötzlich sei sie "rückwärts gegen die Fahrstuhltür gefallen, die Scheibe ist geplatzt, die Scherben sind mir entgegengestürzt, dann war sie plötzlich nicht mehr da. Es war wie ein komischer Film." Wieso die Scheibe, ein Sicherheitsglas, zu Bruch ging, sei ihm ein Rätsel. Und er sei auch der Meinung gewesen, dass der Fahrstuhl da war, "weil es hell war".

Als seine Nachbarin in den Fahrstuhl stürzte, sei er "total perplex und geschockt" gewesen, erzählt Peter E. weiter. Er sei erst mal weggelaufen, habe ein Bier getrunken und nachgedacht. Etwa eine Stunde später sei er zurück zu dem Hochhaus gefahren. Von Polizeibeamten, die mittlerweile ein Nachbar alarmiert hatte, habe er erfahren, dass Angelika B. am Leben ist. Doch es war offenbar knapp. Etliche schwere Knochenbrüche und dazu erheblichen Blutverlust hatte die Frau erlitten.

Es sind Verletzungen, die sie bis heute schwer beeinträchtigen. Es gehe ihr "schlecht", sagt Angelika B. jetzt als Zeugin. Sie habe ständig Schmerzen, könne nicht mehr arbeiten und "kann nicht lange sitzen. Ich liege 15 bis 18 Stunden täglich im Bett." Dem fatalen Sturz in den Fahrstuhlschacht sei ein Streit wegen ihrer Katze vorausgegangen, bestätigt sie die Darstellung des Angeklagten. Sie habe eine Bekannte verdächtigt, für das Verschwinden des Tieres verantwortlich zu sein. "Ich pöbelte ein bisschen rum", sagt die 60-Jährige, dann habe sich der Angeklagte eingemischt und gefordert, sie solle die Bekannte in Ruhe lassen. "Dann bin ich durch die Scheibe geflogen. Ab da weiß ich nur noch, dass ich nichts weiß", formuliert sie kryptisch.

Ob es zwischen ihr und Peter B. vor dem Sturz "Körperkontakt gegeben" habe, will der Amtsrichter wissen. "Ja, als er mich schubste", bestätigt Angelika B. "Ich glaube jedoch nicht", schränkt sie ein, dass Peter E. "das gewollt hat. Nicht, dass ich da runterfliege." Früher habe sie nie von dem Schubsen erzählt, wundert sich der Amtsrichter, obwohl sie immer wieder zu dem Hergang befragt worden sei. Sie habe sich gedreht, sei gestolpert und deshalb gefallen, hatte sie etwa gemeint. Doch mehr als ein Jahr nach dem fatalen Sturz, in einem ersten Prozess vor dem Amtsgericht im vergangenen November, hatte sie plötzlich behauptet, sie sei "geschubst" worden. Weil es sich um versuchte Tötung gehandelt haben könnte, wurde der Fall zum Landgericht und nach Prüfung der Akten zurück zum Amtsgericht verwiesen.

Dort ist Peter E. nun zu 420 Euro Strafe verurteilt worden. Die Aussage über den angeblichen Schubser sei "zu schwankend". Dass Angelika B. durch das Sicherheitsglas stürzte, sei für Peter E. "überraschend gewesen. Er hätte aber gleichwohl unbedingt "nachgucken und Hilfe holen müssen", redet der Richter ihm ins Gewissen. "Der Sturz hat sehr schwere Verletzungen begründet, ja sogar Todesgefahr."