Frauen über 50 erfüllen sich ihren Traum vom Ausland und hüten Kinder. Die Hamburger Agentur Granny Aupair vermittelt Gastfamilien.

Hamburg. Sie nimmt das Hochhaus vor ihrem Küchenfenster schon lange nicht mehr wahr. Eine graue Fassade aus Beton, 17 Stockwerke hoch. Seit 37 Jahren hat sie diesen Blick. Die immer gleiche Aussicht auf den kleinen Spielplatz, dessen Benutzung nur bis 19 Uhr genehmigt ist.

Anke Vendt kennt die Nachbarn, die Busfahrpläne, den Aldi-Markt nebenan. Die 61 Jahre alte Frau hat Hobbys und Freunde, ihre Wohnung, eine Tochter, zwei Enkelsöhne. Sie ist eine zufriedene Frau, die gerne lacht. Manchmal fährt sie nach Sylt, um Urlaub zu machen. Manchmal bucht sie eine Fernreise mit einer Freundin. Sie hat Zeit für solche Sachen. Ihr Arbeitgeber hat sie in Altersteilzeit geschickt. Anke Vendt fand das in Ordnung. Doch dann ist ihr "die Decke auf den Kopf gefallen".

Vom Tor des Grundstücks am Rande der spanischen Ortschaft Mijas Pueblo kann sie das Meer sehen. Der Weg zur Villa führt vorbei an Orangen- und Zitronenbäumen und an Olivenhainen. Anke Vendt öffnet die Fensterläden. Aus der Ferne hört sie die Glocken der Ziegenherde. Es ist ihr erster Arbeitstag in Andalusien.

Anke Vendt ist jetzt Au-pair-Oma, eine Großmutter auf Zeit. Für ein halbes Jahr, mit Unterbrechungen, kümmert sie sich um die Kinder einer deutschen Familie in Spanien. Sie fährt die Jungs in die Schule, spricht mit ihnen Deutsch, hilft im Garten, versorgt die Haustiere und spielt mit dem Kleinen Rommé-Cup und Mühle. "Ich wollte die Chance nutzen, in einem fremden Land zu leben und es aus der Sicht Einheimischer kennenzulernen", sagt sie.

Möglich gemacht hat das Michaela Hansen. Die Hamburgerin arbeitet als PR-Beraterin und hat vor einem Jahr die Agentur Granny Aupair gegründet. Inzwischen verwaltet sie eine ständig wachsende Kartei von suchenden Familien und Seniorinnen. Die Anfragen kommen aus Spanien und Italien, London und Delhi. Im Gegensatz zu klassischen Au-pair-Organisationen regeln die Familien und Frauen bei "Granny Aupair" alles selbst - von der Aufenthaltsdauer bis zur Frage, wie hoch das Taschengeld ist. Michaela Hansen vermittelt nur die Kontakte und erhält eine Provision, wenn sich zwei Parteien einigen. Zwei Dutzend hat die 49-Jährige schon untergebracht. Unter anderem in Kanada, Australien und Nigeria.

In Rom hat Anneli Wegner gerade die Espressomaschine eingeschaltet. Es ist 8 Uhr morgens. Seit einer halben Stunde sind die Kinder aus dem Haus. Drei kleine italienische Jungs, zwei, fünf und sieben Jahre alt. Anneli Wegner nimmt einen Schluck, lehnt sich zurück. Für ein paar Stunden hat sie jetzt Zeit für sich, bevor sie um 15 Uhr die Kinder von der Deutschen Schule abholen muss, mit ihnen zum Fußballtraining, Judo und Kunstturnen fahren wird. Anneli Wegner kommt aus Wandsbek. Sie ist 59 Jahre alt. Ihre eigenen Kinder sind erwachsen. Enkelkinder hat die gebürtige Finnin bislang nicht. Sie ist ein Italien-Fan, seit sie vor 20 Jahren das Au-pair-Mädchen Marta aus Siena in ihrem Wandsbeker Haushalt beschäftigte.

Anneli Wegner hat Italienischkurse besucht, das Land bereist und schließlich eingesehen, dass sie die Sprache auf diesem Wege nie richtig lernen wird. Also bewarb sie sich bei Granny Aupair. Am 30. Januar hat sie sich von Haus, Garten und ihrem Ehemann Bernd verabschiedet. Am späten Nachmittag landete sie in Rom. Fünf Monate wird sie in der italienischen Metropole bleiben. Sie hat ein kleines Zimmer, dessen Fenster in einen Lichtschacht zeigt. Mit dem Bus braucht sie eine halbe Stunde bis zum Vatikan.

Der Alltag in Rom hat die Hamburgerin überrascht. "Meine Italiener trinken zum Beispiel keinen Kaffee, keinen Wein, und alles ist immer genau geplant und organisiert." Morgens muss sie den Kleinsten wickeln, die Großen zum Anziehen überreden, sie zum Frühstücken bewegen. Nachmittags spielt sie mit den Jungs Karten und Memory, liest dem Kleinsten vor. Sie redet ausschließlich Deutsch mit ihnen. Dafür hat die Familie sie nach Rom geholt. Und zahlt ihr 300 Euro Taschengeld pro Monat. Sonntags hat Anneli Wegner frei. Dann fährt sie mit dem Bus durch die Stadt. Die meisten Sehenswürdigkeiten hat sie schon gesehen. Nur die Museen sind noch offen. "Allein", sagt sie, "macht das keinen Spaß." Und ihr Italienisch macht auch nicht die gewünschten Fortschritte. "Zwar besuche ich zweimal in der Woche einen Kursus, aber zu Einheimischen habe ich kaum Kontakt."

Anke Vendt hat es ein wenig leichter. "Ich fühle mich bei meiner Gastfamilie wie ein Familienmitglied", sagt sie. "Wir unternehmen viel gemeinsam und schauen uns die Städte in der Umgebung von Mijas an." An freien Nachmittagen liegen alle schon mal gemeinsam faul am Pool oder fahren ans Meer.

Agentur-Chefin Michaela Hansen versucht grundsätzlich für die Gastfamilien und Grannys alles passend zu machen. In einem Bewerbungsbogen geben beide ihre Wunschvorstellungen an: Land, Größe der Familie, Alter der Kinder. "Passt das zusammen, stelle ich den Kontakt her." Für die Aufnahme in die Kartei, in der 200 Frauen stehen, berechnet Frau Hansen 25 Euro. Für eine komplette Vermittlung 250 Euro.

Auf die Idee, eine Agentur für Au-pair-Großmütter zu gründen, kam Michaela Hansen, als sie im Fernsehen eine Sendung über jüngere Au-pairs sah. "Ich dachte, warum gibt es das nicht für Ältere?" Denn gerade die Frauen über 50 hätten oftmals nie die Gelegenheit für einen Auslandsaufenthalt gehabt.

So wie Anke Vendt. Mit 16 macht sie ihren Volksschulabschluss, beginnt eine Ausbildung zur Technischen Zeichnerin. Sie bekommt eine Anstellung. Ihre Tochter Tanja, heute 41, zieht sie alleine auf. Mit 44 Jahren wird Anke Vendt Oma. Inzwischen ist der zweite Enkelsohn auch schon zehn Jahre alt. "Eine Zeit lang ins Ausland zu gehen, das wäre für mich undenkbar gewesen", sagt sie. Warum das jetzt anders ist, kann sie auch nicht so genau sagen.

Vielleicht weil Anke Vendt jetzt zum ersten Mal in ihrem Leben zur Ruhe kommt und merkt, dass sie für den Ruhestand noch viel zu jung ist. Vielleicht weil sie das erste Mal in ihrem Leben nicht mehr von anderen gebraucht wird. Und merkt, dass sie noch so viel zu geben hat.