Hamburg könnte Europas Hauptstadt der erneuerbaren Energien werden - aber nur mit einem eigenen 100-Prozent-Ziel, meint der Experte des Weltzukunftsrats

Von einem "modernen Hamburg" ist gleich in der Überschrift der Regierungserklärung des Ersten Bürgermeisters Olaf Scholz die Rede. Das Wort "Umwelthauptstadt" hingegen taucht erst in der zweiten Hälfte des über 20 Seiten langen Dokuments auf. Wer modern sagt, sollte aber die Themen erneuerbare Energien und nachhaltige Stadtentwicklung ganz vorne platzieren. Denn eine entschlossene Umwelt- und Nachhaltigkeitspolitik ist die beste moderne Wirtschaftspolitik.

Zwei Zahlen, die man sich einprägen sollte: Jeder zweite Weltbürger lebt in einer Stadt. Rund 80 Prozent aller weltweit eingesetzten Ressourcen werden in Städten verbraucht - Tendenz steigend. Wichtigster Treibstoff der weltweiten Verstädterung sind Kohle, Öl und Gas, in manchen Ländern wie in Deutschland auch Atomenergie. Erst die Entdeckung der fossilen Brennstoffe machte den Weg frei für die Industrialisierung und damit die Automatisierung und Beschleunigung von Arbeitsprozessen. Elektrizität, Mobilität, Massenproduktion, Geschwindigkeit, große Infrastrukturmaßnahmen: Nahezu alle Attribute der um 1900 auftauchenden Modernität haben mit der Verfügbarkeit fossiler Energien zu tun.

Bis heute sind Städte abhängig von Preisschwankungen und Lieferbedingungen der Kohle- und Ölindustrie. Vor allem aber sind Städte Hauptverursacher des Klimawandels. Überall steht man vor der Frage, wie Städte auf diese Herausforderungen reagieren müssen. Wie können sie in kurzer Zeit auf ein nachhaltiges Energiesystem umgestellt werden? Wie viel und vor allem welche Form von Mobilität ist notwendig oder besser, möglich? Wie kann die lokale Wirtschaft am besten profitieren?

Die Antworten liegen im Einsatz neuer Technologien, in neuen Raumordnungs- und Energiekonzepten. Und doch stellt sich die Frage, warum Städte als weltweit größter Hauptverursacher des Klimawandels noch immer viel zu wenig tun für eine nachhaltige Entwicklung. Trotz der Tatsache, dass wir längst über notwendige Technologien und das Geld verfügen?

Dafür gibt es zwei Hauptursachen: Es fehlt auf nationaler Ebene eine zentrale Institution für nachhaltige Stadtentwicklung, die Barrieren zwischen regionaler und nationaler Gesetzgebung ausräumt und die bei lokalen Nachhaltigkeitsstrategien helfen kann. Zum anderen fehlen ehrgeizige und verbindende Ziele für die Stadt. Dies kann heutzutage nur das Ziel der Vollversorgung mit erneuerbaren Energien sein. Ein 100-Prozent-Ziel kann identitätsbildend auf die Bürger sowie die lokale Wirtschaft und Institutionen wirken, was zum Erreichen dieses Ziels beiträgt. Ein 100-Prozent-Ziel hat mehrere Vorteile. Es ist ein Aushängeschild für eine Stadt - modern, verantwortungsbewusst, zukunftsfähig. Es verspricht eine neue Stadtraumentwicklung, neue wirtschaftliche Impulse und eine höhere Lebensqualität für die Menschen. Dies wiederum sind hohe Werte für Handel, Gewerbe und Unternehmen, die Kunden und Fachkräften einen attraktiven Standort bieten wollen. Erneuerbare Energien sind Deutschlands wichtigster Jobmotor, der fast doppelt so vielen Menschen Arbeit gibt wie Kohle und Atomindustrie zusammen. Ein solches 100-Prozent-Ziel braucht nicht ausschließlich "intra muros" erreicht zu werden. Der Energiebedarf einer Stadt steht stark in Abhängigkeit von seiner lokalen Wirtschaft, externe erneuerbare Energiequellen können anteilig hinzugezogen werden.

Das Ziel ist mindestens so wichtig wie der Zeitraum, in dem man es erreicht. Zwar hat sich Hamburg auf eigene Klimaziele festgelegt. Bis 2020 soll der CO2-Ausstoß um 40 Prozent, bis 2050 um 80 Prozent reduziert werden. Was fehlt, ist ein ambitioniertes Positivziel. Ein 100-Prozent-Ziel eben, das sich konkret auf die erneuerbaren Energien konzentriert und die überwältigenden Vorteile gegenüber einem "Business as usual"-Szenario hervorhebt. 100 Prozent Hamburg eben.

München und seine Selbstverpflichtung, bis 2025 seinen Strom zu 100 Prozent aus erneuerbaren Energien zu beziehen, zieht national wie international alle Aufmerksamkeit auf sich. Gerade in diesem Jahr, in dem Hamburg Umwelthauptstadt Europas ist, muss man endlich das 100-Prozent-Ziel feststecken und damit beginnen, Strategie und Zeitraum festzulegen. Führende Unternehmen der erneuerbaren Energien haben ihr Hauptquartier in Hamburg, als Hafenstadt kann Hamburg noch mehr vom weltweiten Boom der erneuerbaren Energien profitieren. Hamburg hat die Chance, auch Europas Hauptstadt der erneuerbaren Energien zu sein. Worauf warten wir?