Vielleicht hat er nicht wirklich nachgedacht. Vielleicht hat er geglaubt, er werde nicht erwischt. Oder vielleicht hat er gemeint, es gehe immer wieder glimpflich für ihn aus. Als könne er wieder und wieder die Gesetze ignorieren, als sei eine Zeit im Gefängnis nur eine diffuse Drohung, irgendwo fern am Horizont, jenseits der Realität. Nicht wirklich ernst gemeint. Er hat sich geirrt.

Denn jetzt steht Reinhard R. mit mehr als einem Bein im Knast. Verzweifelt kämpft der 23-Jährige in der Berufung vor dem Landgericht, nicht ins Gefängnis gehen zu müssen. Sechs Monate Haft ohne Bewährung wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis hatte das Amtsgericht gegen den Hamburger verhängt - eine Strafe, die auf einen ersten flüchtigen Blick hart erscheint. Doch der junge Mann hat seine Chance gehabt, mehr als einmal. Er ist ein Bewährungs-Versager, dazu einer, der mit geradezu atemberaubendem Tempo alle Warnungen ignoriert. Gerade mal fünf Monate hielt er sich nach seiner vorletzten Verurteilung straffrei. Und nach seiner letzten Bewährungsstrafe dauerte es keine 24 Stunden, bis sich Reinhard R. erneut auf sein Motorrad setzte und losbrauste. Wieder ohne Führerschein.

Die Aussicht auf ein halbes Jahr hinter Gittern scheint den jungen Hamburger wachgerüttelt zu haben. Vor Gericht präsentiert er sich als aufgeschlossener, höflicher Mann, der sein Leben in den Griff bekommen will. Er erzählt von dem Job, den er nach monatelangem unbezahlten Praktikum in Aussicht hat, von seiner Oma, bei der er lebt und die er finanziell unterstützen und pflegen möchte, von seiner Verlobten, der er eine prächtige Hochzeit bieten will. Außerdem habe das Schicksal ihm ohnehin schon übel mitgespielt, argumentiert er. Denn bei der Fahrt ohne Führerschein auf seinem Motorrad am 3. August 2010 hat er nicht nur an der Kieler Straße einen Unfall gebaut und sein Bike, eine kraftstrotzende 180-PS-Maschine, die er eigentlich wenige Tage später hatte verkaufen wollen, seitdem nur noch Schrottwert. Nein, er sei auch selber schwer verletzt worden damals, unter anderem habe er mehrere Knochenbrüche erlitten und musste operiert werden.

Er habe an jenem schicksalhaften Tag erfahren, sagt Reinhard R. nun im Prozess, dass einen Tag zuvor ein Kumpel von ihm gestorben war. "Er wurde umgebracht", erzählt er, immer noch sichtlich ergriffen, die genauen Umstände kenne er aber nicht. "Ich bekam per Telefon die Nachricht, war geschockt über die Situation und wollte sofort zu seiner Familie fahren." Auf dem Weg dorthin habe er dann den Unfall erlitten. Ich kann mich nicht erinnern, wie es passiert ist."

Er verstehe, sagt der Vorsitzende Richter, "dass das mit der Todesnachricht sicher ein aufwühlendes Erlebnis war". Trotzdem, mahnt er, gerade einen Tag vorher habe der Angeklagte doch eine sechsmonatige Bewährungsstrafe wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis bekommen und fünf Monate zuvor schon eine, zudem als Heranwachsender bereits eine Jugendstrafe, insgesamt drei Bewährungen, deren Widerruf er riskierte und damit eine längere Zeit im Gefängnis. Ob er sich daran nicht erinnert habe, bevor er sich auf sein Motorrad geschwungen hat? Darauf hat Reinhard R. keine Antwort mehr. Betreten senkt er den Blick zu Boden.

Fotos aus der Akte dokumentieren den Unfallort, eine lang gezogene Linkskurve, in der der 23-Jährige offenbar die Kontrolle über sein Motorrad verloren hat. Das Bike sei daraufhin gegen eine Litfaßsäule gebrettert, erläutert der Richter, und dann "wie eine übergroße Billardkugel abgeprallt". Etwa sechs Meter weit wurde das Motorrad geschleudert, Reinhard R. sogar ungefähr die doppelte Distanz.

Am Ende verwirft das Gericht die Berufung und bestätigt damit das Amtsgerichtsurteil, dass die sechsmonatige Gefängnisstrafe nicht mehr zur Bewährung ausgesetzt werden kann. Denn hierzu muss das Gericht laut Gesetz die Erwartung haben, dass der Verurteilte "künftig auch ohne die Einwirkung des Strafvollzugs keine weiteren Straftaten mehr begehen wird". Das strafrechtliche Vorleben des Angeklagten sei jedoch "leider desaströs", erklärt der Vorsitzende Richter die Entscheidung. Bisher habe Reinhard R. ganz offensichtlich nach dem Motto gelebt: "Ich habe ja Bewährung, also kann es so schlimm nicht gewesen sein."

"Es war aber so schlimm, die Gefährdung anderer war massiv", redet der Richter ihm ins Gewissen. Trotz der Vorstrafen habe er sich einen Tag nach der letzten Verurteilung "auf so eine Rakete gesetzt", und sei dann auch noch offensichtlich zu schnell gefahren. "Wenn da, wo Ihre Maschine hingeflogen ist, Menschen gestanden hätten, käme jetzt noch fahrlässige Tötung hinzu." Ob er von dem Eppendorfer Unfall vor wenigen Wochen gehört habe, bei dem vier Menschen getötet wurden? "Die Leute standen einfach nur am Gehweg und sind jetzt tot. Das hätte bei Ihnen auch passieren können."