Hamburg in den 70ern: Susanne Albrecht stößt zur RAF, beteiligt sich am Mord an Jürgen Ponto. Ihre jüngere Schwester schreibt mit Ponto-Tochter ein Buch.

Hamburg. Meine Schwester war aus der Welt gefallen." Der Satz von Julia Albrecht beschreibt ein Gefühls-Universum. Einen Verlust, den sie mit 13 Jahren erlebte und mit dem sie nie gerechnet hatte. Ihre große, bewunderte Schwester Susanne, damals 26, war am 30. Juli 1977 mit zwei Begleitern nach Frankfurt-Oberursel gefahren, zu ihrem Paten, dem Vorstandssprecher der Dresdner Bank Jürgen Ponto. Man hatte sie als gute Freundin eingelassen. Und dann war Ponto in seinem Esszimmer erschossen worden. Das RAF-Kommando - Susanne Albrecht, Brigitte Mohnhaupt, Christian Klar - entkam zusammen mit Peter-Jürgen Boock im Fluchtwagen.

"Das war für mich als Kind kaum zu verkraften", schreibt Julia Albrecht. Pontos Frau Ignes und ihre beiden fast erwachsenen Kinder Stefan und Corinna waren dem Anschlag nur durch Zufälle entgangen. Die Tat erschütterte ganz Deutschland: Eine Tochter aus gutem Hause opfert sogar eine Familienfreundschaft für den Feldzug der RAF.

30 Jahre später begann Julia Albrecht vorsichtig einen Dialog mit der sieben Jahre älteren Corinna Ponto. Sie trafen sich, erzählten, wie es gewesen ist. Was sie verloren haben, wie die Tat ihr Leben verändert hat. Die Tochter des RAF-Opfers und die Schwester der Täterin haben darüber jetzt zusammen das Buch "Patentöchter" geschrieben, eine bemerkenswert sensible und ehrliche Annäherung, die schmerzhaftes Erinnern nicht auslässt. Zum ersten Mal haben Angehörige beider Seiten ein solches Gemeinschaftsprojekt gewagt.

Vielleicht war das nur in diesem besonderen Fall möglich. Denn die beiden Familien waren einmal befreundet gewesen, sie hatten in Hamburg-Blankenese nahe beieinandergewohnt. Jürgen Ponto war Pate von Susanne Albrecht, Christian Albrecht - Seerechtsanwalt und CDU-Bürgerschaftsabgeordneter - war Pate von Corinna Ponto. Die Tat änderte alles. Trotz der anfangs gemeinsamen Trauer, trotz des gemeinsamen Entsetzens zerbrach die Familienfreundschaft.

Für Julia Albrecht, die damals in die siebte Klasse des Gymnasiums Othmarschen ging, war es ein Glück, dass gerade die großen Ferien begannen. Am Tatabend war die Familie im Schock. "Meine Mutter erzählt mir, ich sei stundenlang durchs Wohnzimmer gelaufen und hätte gesagt: 'Susanne hat nicht geschossen, Susanne hat nicht geschossen'", schreibt Julia Albrecht.

Eine Beschwörungsformel, die nicht half. Denn ab sofort war Susanne Albrecht allgegenwärtig: auf Zeitungs- und Zeitschriftentiteln und auf Fahndungsplakaten überall in der Stadt. Am unangenehmsten fand Julia das Plakat an der Litfaßsäule in der Waitzstraße - da, wo sich ihre Mitschüler nach der Schule trafen. In krassem Gegensatz zur Allgegenwart der Fahndung stand das beredte Dauerschweigen, das Julia erlebte. In den Augen der anderen war sie von nun an "die Schwester von Susanne". Aber weder Schulfreunde noch Lehrer oder Nachbarn hätten sie je auf ihre Schwester angesprochen, sagt sie im Abendblatt-Gespräch. Es hätte sie getröstet, wenn jemand gesagt hätte: Ich weiß Bescheid, und mir ist klar, dass es für dich eine schreckliche Situation sein muss.

Susanne Albrecht hatte nicht nur die Pontos getäuscht. Sie hatte auch die eigene Familie benutzt. Auf Susannes Bitte hatte ihre Mutter Christa bei den Pontos in Frankfurt angerufen und Susanne angekündigt. Arglos. Dabei war Susanne Albrecht bereits auffällig geworden. Man hatte sie an der deutsch-niederländischen Grenze mit fünf Sprengkapseln im Gepäck verhaftet. Christian Albrecht hatte erreicht, dass das Verfahren eingestellt wurde. Corinna Ponto warf der Familie 2007 in einem Interview vor: Das hättet ihr uns sagen müssen, uns warnen müssen.

Es ist ein heikler Punkt, dem sich beide Autorinnen tapfer stellen. Als Susanne vor dem Ponto-Überfall wieder häufiger nach Hause kam, wirkte sie auf die Eltern entspannter und weniger feindselig als früher, schreibt Julia. Christian und Christa Albrecht hofften, sie löse sich von ihrem Umfeld. Aber in einem Brief ihres Vaters aus der gleichen Zeit, den Julia erst nach seinem Tod (2007) fand, beschwor er Susanne: "Bitte verplempere jetzt nicht dein Leben." Er bezog sich offenbar auf das Attentat auf die deutsche Botschaft in Stockholm 1975, an dem Susannes Freund Karl-Heinz Dellwo mitgewirkt hatte. War Christian Albrecht also doch nicht so zuversichtlich?

"Meine Eltern wollten glauben, dass sie zu uns zurückfindet", sagt Julia Albrecht. "Aber Susanne hat meine Eltern aktiv getäuscht." Der "Spiegel"-Gerichtsreporter Gerhard Mauz, der mit den Albrechts befreundet war, schrieb: "Fürchterlicher als dadurch, dass sie an einem Attentat auf einen Freund mitwirkte, hat Susanne Albrecht ihren Vater nicht treffen können."

Mauz leitete den RAF-Terror von einer nicht bewältigten Auseinandersetzung mit der Elterngeneration ab. Julia Albrecht hatte natürlich bemerkt, dass Susanne und die Eltern häufig stritten. War das Elternhaus offen?

"Meine Eltern sind wie wir alle Kinder ihrer Zeit", sagt Julia Albrecht. "Das Großwerden unmittelbar nach dem Krieg war in vielen bürgerlichen Familien auch geprägt von diesem sehr begeisterten Nach-vorne-Gehen und der Unfähigkeit, den Blick zurück zu wagen, selbst wenn man, wie meine Eltern, kein Nazi war. Insbesondere meine Mutter hat versucht, sich gedanklich der Tochter anzunähern. Sie hat das 'kursbuch', Mitscherlich, Adorno und Habermas gelesen und Susanne sogar zu Diskussionen an der Uni begleitet."

Hamburg erlebte damals die Hochzeit des Häuserkampfes, etwa gegen den geplanten Abriss der Falkenried-Terrassen und Wuchermieten in Eppendorf. Es gab Hausbesetzungen in der Haynstraße 1 und in der Ekhofstraße. Gegner waren nicht nur Spekulanten, sondern auch die Neue Heimat und ihre Ableger. Hamburgs SPD und CDU waren sich einig: Man wollte dem wachsenden Bedarf an moderneren Wohnungen nachkommen und nahm höhere Mieten als Folge in Kauf. Fast ein Déjà-vu: Es ging um genau das, was heute Gentrifizierung genannt wird.

Vielen Eltern, zumal gutbürgerlichen, war es unmöglich, die Strukturen der linken Szene zu durchschauen. Zu den Besetzern der Ekhofstraßen-Häuser am Karfreitag 1973, die schließlich von der Polizei geräumt wurden, gehörten die Pädagogik-Studentin Susanne Albrecht, ihre WG-Genossen Karl-Heinz Dellwo und Bernhard Rösner. Viele der Besetzer waren noch Schüler und hatten mit der RAF nichts zu tun, erinnert sich der Rechtsanwalt Kurt Groenewold.

Einige seien allerdings später zur RAF gestoßen. In Groenewolds Büro arbeitete Susanne Albrecht im "Komitee gegen Folter an den politischen Gefangenen der Bundesrepublik Deutschland" am "Info-System" der Stammheimer RAF-Inhaftierten mit.

Vordergründig eine gute Sache: In Chile und Griechenland waren brutale Juntas an der Macht, Folter gehörte dort zum Alltag. Wenn Mikis Theodorakis oder die chilenische Gruppe Quilapayún Solidaritätskonzerte gaben, tobte in der Altonaer "Fabrik" oder im Audimax der Saal. Im Hintergrund war das "Info-System" nichts anderes als die Befehlskette von Andreas Baader und das Anti-Folter-Komitee eine Rekrutierungsstelle der RAF.

Julia Albrecht wusste nichts davon. Susanne blieb nach der Tat 13 Jahre lang verschwunden. Und solange sie weg war, gab es keine Chance, ihr die normalsten Fragen zu stellen: Wie konntest du? Weißt du, was das für uns heißt? "Wir waren verbannt in ein Warten", schreibt Julia.

Nach dem Fall der Mauer, im Juni 1990, wurden Susanne Albrecht und weitere Ex-RAF-Mitglieder in der DDR festgenommen. Die Stasi hatte ihr eine neue Identität verschafft, sie hatte einen Ingenieur geheiratet und 1983 einen Sohn bekommen. Julia Albrecht besuchte sie sofort im Untersuchungsgefängnis. "Sie sagte mit ihrer sanften, vorsichtigen Stimme: 'Hallo, Julia.' Sie sagte, dass sie mich ganz vergessen habe. Dass es ihr Mühe mache, sich daran zu erinnern, dass es mich gab." Das traf Julia tief. Ihre Schwester sei "aus der Welt gefallen", hat sie geschrieben. Für Außenstehende wirkt es, als habe Susanne die "alte Welt" samt Julia entsorgt.

Vom Prozess gegen die Schwester, der im April 1991 vor dem Oberlandesgericht Stuttgart begann, versäumte Julia keinen Verhandlungstag. Was sie erwartete, war eine Desillusionierung. Susanne Albrecht hatte nicht nur die Türöffnerin bei Ponto gespielt. Sie hatte die RAF quasi erst auf die Idee zur Entführung gebracht, das Bekennerschreiben unterzeichnet, später noch einen Anschlag auf Nato-General Alexander Haig mit vorbereitet. "Sie hatte völlig ausgeblendet, dass es um Menschenleben ging", schreibt sie.

Susanne Albrecht legte ein umfassendes Geständnis ab und sagte gegen ihre Mittäter Klar und Mohnhaupt aus. Dafür profitierte sie von der Kronzeugenregelung, und das Urteil war milde: zwölf Jahre Freiheitsstrafe. Sie arbeitet heute für einen freien Träger in Bremen als Lehrkraft für Migrantenkinder.

Ihr Bruder Matthias schrieb 2008 im "Spiegel", Susanne habe sich "nicht um Klärung oder gar Versöhnung bemüht". Julia ist bei aller Kritik rücksichtsvoller: "Natürlich ist Susanne empathiefähig. Und natürlich hat sie sich bemüht, auch unsere Sicht zu verstehen." Julia will weder der Familie noch Corinna noch Susanne wehtun, mit der sie noch in Kontakt steht.

"Die Zusammenarbeit mit Corinna Ponto hat eine Welt für mich bedeutet", sagt sie. "Ich hätte dieses Buch allein nicht bewältigt. Wir haben es geschafft, die Position der jeweils anderen zu akzeptieren." Respekt war der einzig mögliche Weg. Das Ergebnis, sagt Julia Albrecht, "ist ein Stück Befreiung". Sie ist aus dem Schatten der "Schwester von" herausgetreten.

Julia Albrecht, Corinna Ponto: "Patentöchter. Im Schatten der RAF - ein Dialog". Kiepenheuer & Witsch, 215 Seiten, 18,95 Euro. Am 4. April sind beide Autorinnen Gäste bei "Beckmann", 22.45 Uhr, ARD.