Auf meinem Tisch liegt eine hübsche Klappkarte: Sie zeigt einen bronzefarbenen runden Vogelkäfig. Auf dem hockt ein kleiner knallroter Vogel. Er sitzt nicht im Käfig, sondern in aller Freiheit oben drauf. Er ist kein Gefangener, sondern frei zu fliegen oder zu bleiben. Daneben steht ein Zitat des Schriftstellers Ödön von Horváth: "Eigentlich bin ich ganz anders, nur komme ich so selten dazu." Eigentlich könnte der Vogel hinausfliegen, die Welt von oben bewundern - wie andere Vögel auch. Aber er kommt so selten dazu, weil der vertraute Käfig ihn abhält oder die Wärme des Raumes oder das Futter im Napf. Und so bleibt er dort hocken und träumt nur davon, anders zu sein.

Mit dieser Karte hat der ökumenische Verein Andere Zeiten im vergangenen Jahr die Passionszeit begleitet, die sieben Wochen vor Ostern. Diese Wochen sind "anders", weil sie uns auf das Leiden Jesu am Kreuz vorbereiten. Viele Menschen fasten in dieser Zeit oder verzichten auf Gewohntes. Andere versuchen anders zu leben, weniger gestresst und fremdbestimmt. Die Gottesdienste werden nachdenklicher und stiller. Die Erzählung von Jesu grenzenloser Liebe zu uns Menschen lässt manchen innehalten. Wir werden aufmerksamer und sensibler für die Seiten des Lebens, die wir unter dem Druck des Alltags oft nicht zulassen: Kann ich der Mensch sein, der ich wirklich bin? Darf ich auch meine verborgenen Seiten leben? Darf ich meine Schwäche zeigen und zugeben, dass ich auch nicht immer weiß, was richtig ist und was falsch? Wo finde ich Zuflucht mit meinen Sorgen und meinem Schmerz?

In der Passionszeit weiten wir unsere Sinne für das Ganze des Lebens. Wir erkennen, wie nah Liebe und Leiden, Glück und Tragik beieinander liegen, wie paradox das Leben oft ist: Ein Scheitern bedeutet nicht unmittelbar das Ende, es kann neue Perspektiven eröffnen. Ein Schmerz kann heilsam sein, eine Träne kann befreien. Jesu Weg in die Passion kann für uns ein Wegweiser in die Freiheit sein. Ob wir sie ergreifen - frei wie ein Vogel - oder nur von ihr träumen, bleibt uns selbst überlassen.

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