Die frühere SPD-Politikerin sagt weiter sinkende Wahlbeteiligungen in diesem Superwahljahr voraus und plädiert für mehr direkte Demokratie auf Bundesebene

57 Prozent Wahlbeteiligung in Hamburg, mehr als sechs Prozent weniger als 2008! Sicherlich, manche Leute haben sich zweifellos von dem neuen Wahlsystem abschrecken lassen. Aber der Trend ist deutlich und weist über die Bürgerschaftswahl hinaus: Es ist zu befürchten, dass auch bei den kommenden Landtagswahlen in diesem Superwahljahr die Beteiligung weiter sinkt.

Dabei sind die Menschen ja nicht politikverdrossen. Das haben die großen Protestbewegungen - ob gegen die Hamburger Schulreform oder die Castor-Transporte, ob gegen zu laschen Nichtraucherschutz in Bayern oder gegen Stuttgart 21 - gezeigt. Eher macht sich "Politikerverdrossenheit" breit. Und jüngste Ereignisse wie die langwierigen Hartz-IV-Verhandlungen oder das Krisenmanagement des Freiherrn zu Guttenberg bis zu seinem Rücktritt waren sicher auch keine Werbeveranstaltungen für Glaubwürdigkeit in der Politik.

Zugegeben, Parteienverachtung hat in Deutschland Tradition. Einst wurden Parlamente als "Schwatzbuden" geschmäht. In gemäßigter Form lebt die Schelte bis heute fort. Namhafte Journalisten wie Gabor Steingart kokettierten schon mal mit ihrer Rolle als bekennende Nichtwähler. Der Bestseller-Autor Richard David Precht sprach von "Demokratie-Theater". Der Begriff "politische Klasse" hat sich eingebürgert. Er suggeriert Arroganz und Abgehobenheit. Leider benehmen sich manche Politiker auch so! Aus meiner langen Parlamentszeit erinnere ich mich daran, wie oft die Abgeordneten von den "Bürgern draußen im Lande" sprechen. So, als gehörten sie selbst nicht dazu.

Gern begründet man den Ansehensverlust der Parteien damit, dass unsere Gesellschaft sich immer stärker individualisiert. In große Organisationen einzutreten und dort eher unspektakulär mitzuarbeiten liegt nicht im Trend. Auch Kirchen, Verbände und Sportvereine leiden unter Mitgliederschwund. Nur hilft die Erkenntnis allein nicht weiter. Parteien erfüllen Kernaufgaben im demokratischen Rechtsstaat. Ihre Repräsentanten müssen gegen den Unmut der Bürger ankämpfen! Selbstkritisch und mit dem Willen zur Veränderung! Zwar bemühen sich insbesondere die großen Volksparteien schon seit Jahren, vor allem junge Leute anzusprechen - mit unkonventionellen Veranstaltungen, "Schnuppermitgliedschaften", peppigen Werbemethoden. Viel gebracht hat das nicht.

Warum nicht? Weil die Menschen den Politikbetrieb und viele seiner Akteure langweilig, schwer verständlich, ja oft sogar abstoßend finden. Das Motto muss demnach lauten: Redet konkreter, macht eure Entscheidungen transparent, lasst das Volk teilhaben an eurem Tun. Sorgt dafür, dass nicht länger Seilschaften und Kungelrunden allein darüber entscheiden, wer als Kandidat für ein Mandat in Bund, Land oder Kommune aufgestellt wird. Da machen nämlich oft diejenigen das Rennen, die die gängigen Mechanismen des innerparteilichen Aufstiegs beherrschen. Leute mit stromlinienförmigen, austauschbaren Karrieremustern.

Forscht auch außerhalb der Parteien nach Talenten! Bemüht euch um farbigere, ungewöhnlichere Persönlichkeiten! Quereinsteiger, Querköpfe. Und so wichtig junge Leute sind - ein paar Jahre Erfahrungen im Beruf empfehlen sich doch!

Und weiter. Auch wenn es schwerfällt: Man darf in Wahlkämpfen nur versprechen, was man später umsetzen kann. Wenn man, wie jetzt Hamburgs SPD, die absolute Mehrheit erreicht, ist das sogar so etwas wie die Erfüllung eines Vertrages mit dem Wähler. Ebenso deutlich muss man Fehler einräumen - schnell, umfassend und nicht scheibchenweise unter öffentlichem Druck. Den meisten Menschen ist das lieber als die übliche Schönfärberei. Und dann die Sprache! Viele Bürger können Floskeln wie "weiterer Beratungsbedarf" oder "konstruktive Gesprächsatmosphäre" und dergleichen nicht mehr hören.

Schließlich sollte es auch auf Bundesebene Angebote der "direkten Demokratie" geben, damit die Menschen auch zwischen den Urnengängen politisch mitgestalten können. Dazu ist freilich eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag nötig.

Als eine erste Stufe wäre vielleicht eine "Volksinitiative" durchsetzbar, wie sie künftig auf europäischer Ebene möglich ist. Ausgestattet mit ausreichend Unterschriften könnten die Bürger vom Parlament verlangen, sich mit einem bestimmten Thema zu befassen und ein Gesetz dazu zu erarbeiten. Es täte der Demokratie gut. Und dem Image der Parteien auch.