Eine Glosse von Iris Hellmuth

Er ist schmal und kantig und bei mir, seitdem ich beim König war. Einen Monat ist das jetzt her. Da haben sie am Thalia "Don Karlos" gespielt. In der Pause sah man Menschen, die so gebannt waren, dass sie nicht über das Wetter sprachen oder die Wahl, sondern über einen König, dessen Sohn, ein Reich und die Freiheit. Der Buchverkäufer im Thalia-Foyer schob Dutzende Reclam-Hefte über den Verkaufstresen, denn das wollte man noch einmal in Ruhe nachlesen, auch ich: Don Karlos, Friedrich Schiller, uraufgeführt in Hamburg, zwei Jahre vor der Französischen Revolution.

Zwei Tage später begann der Aufstand in Ägypten, ein Drama in Echtzeit, nicht in fünf Akten. Ein Volk begehrt auf gegen das Regime des Despoten, "Bürger derer, welche kommen werden", heißt es bei Schiller. Auf jeder Bahnfahrt ist Don Karlos nun mein Begleiter, er liest sich wie ein Kommentar unserer Zeit. Diktatoren werden fortgejagt, mögen weitere folgen. "Sie wollen Pflanzen für die Ewigkeit, und säen Tod? Ein so erzwungnes Werk wird seines Schöpfers Geist nicht überdauern", sagt der Marquis von Posa zu seinem König. "Ein Federzug von dieser Hand, und neu erschaffen wird die Erde. Geben Sie Gedankenfreiheit, Sire!" Und der König? Ahnt. Zögert. Und traut sich doch nicht. "Ihr werdet anders denken, kennt Ihr den Menschen erst wie ich."

Diktatoren lesen wenig, sie sind ja ständig im Dienst. Schade. Don Karlos haben sie wirklich verpasst.