Das Licht ist schon aus im Plenarsaal, als für einen Moment alle Abgeordneten gleich zu sein scheinen. Bier in der linken, Brezel in der rechten Hand, sitzen die Spitzenpolitiker neben den Hinterbänklern der vergangenen Legislatur. Sie sind noch etwas geblieben nach der letzten Bürgerschaftssitzung. "Haben sie dir schon einen Job angeboten?", fragt einer. "Nee, noch nicht", lautet die Antwort. "Kenne ich", sagt ein Dritter. Dann die Frage: "Auf welchem Listenplatz stehst du?" Ein verdienter Abgeordneter sagt "20" (Nummer vielleicht geändert, d. Red). Und dann schweigen diese Abgeordneten gegnerischer Parteien, die sonst so lautstark im Parlament streiten. Sie schweigen gemeinsam, als wäre "Listenplatz 20" eine erschütternde Diagnose. Der Abgeordnete jedenfalls lächelt, zieht seinen Mantel an und geht. So, als würde er nicht wiederkommen.

Vielleicht hat dieser Politiker zu früh aufgegeben. Früher besiegelten Listenplätze das Schicksal von Abgeordneten. Weit hinten platziert, drohte das Ende der politischen Karriere. Das ist mit dem neuen Wahlrecht anders: Wer auf sich aufmerksam macht, kann auch ohne Segen seiner Partei ins Parlament zurückkehren. Man darf sagen: Jeder kämpft gegen jeden.

Den Lieferwagen, der an diesem Abend vor dem Rathaus steht, werden daher viele Abgeordnete bemerkt haben. Beklebt mit Bildern eines strahlenden Kandidaten, wirbt das Mobil für Heiko Hecht aus Finkenwerder. Der CDU-Abgeordnete sagt: "Wenn ich etwas mache, dann mache ich es richtig." 18 000 Euro hat er aus privater Kasse bezahlt, für Flugblätter, Internetvideos, Wahlkampfmobile. Zum Vergleich: Sein Parteikollege Kai Voet van Vormizeele etwa hat 1500 Euro Startkapital von der Partei erhalten und einige Spenden gesammelt, "hier mal 10 Euro, da mal 20". Insgesamt verfügt er über 3000 Euro. "Gut, dass die Druckkosten für Poster seit einigen Jahren gefallen sind", sagt Vormizeele, der schon viele Wahlkämpfe hinter sich hat. Er fährt nicht im bunten Wahlkampfmobil, sondern im schnöden Minibus. 320 Euro Leihgebühr die Woche.

Einige Kandidaten beklagen bereits "amerikanische Verhältnisse". Geld ist dort ein wichtiger Faktor: Wer Präsident werden will, sollte rechtzeitig vermelden, die 20 Millionen Dollar Spenden-Marke geknackt zu haben. Die Kandidaten laden dafür Promis zum Dinner, zu gegrillter Hähnchenbrust mit Trüffeln: 2000 Dollar das Gedeck. Nun geht es hier um weniger glamouröse Bürgerschaftswahlen, mit Spenden halten sich die Kandidaten zudem zurück - sie wissen, dass eine Großspende nach hinten losgehen kann. Jedenfalls müssten sie ab 2500 Euro gemeldet werden, das ist bisher nicht geschehen.

Allerdings eröffnet das Wahlrecht einen weiteren Trend: "No Logo". Wahlkampf muss nicht mehr im Dienste der Parteien geführt werden. Auf der Startseite des Netzauftritts des Kandidaten Heiko Hecht sucht man gar vergeblich das Logo der CDU. Personifizierter Wahlkampf. "Das ist auch gut für mein Geschäft", sagt Hecht, der als Anwalt für Arbeitsrecht tätig ist. "Ich bin jetzt der bekannteste Anwalt der Gegend", sagt der Politiker, der nicht verschleiert, dass ihm die Wahltour auch Mandanten bringen wird.

Man darf feststellen, dass Abgeordnete unabhängiger werden. Der ein oder andere Fraktionschef, der für Disziplin sorgen muss, dürfte das aufmerksam verfolgen.

Von "Local Heroes", lokalen Helden, sprechen Politikwissenschaftler. Im ländlichen Raum, wo das Wahlrecht bereits gilt, schneiden laut Studien etwa Metzgermeister, Frauenärzte und auch Bäcker gut ab. Sie haben regen Kontakt mit den Wählern. Voller Einsatz auch in Hamburg. Der GAL-Abgeordnete Farid Müller etwa speckte 20 Kilogramm für den Wahlkampf ab.

Die neue Konkurrenz bringt aber auch böses Blut. Zwar lobte ausgerechnet Linke-Spitzenkandidatin Dora Heyenn das CDU-Urgestein Karl-Heinz Warnholz ("Ihr Kommunisten") weil er bei jedem Wetter in der Fußgängerzone stand. "Das bewundere ich sehr", sagte Heyenn. Aber etwa in der SPD (Name vielleicht geändert, d. Red.) treten sich Kandidaten eines Wahlkreises auch auf die Füße. "Das ist mein Marktplatz", heißt es. Oder "Wieso hast du ein Flugblatt für die türkische Gemeinde, das wollte ich doch machen". Und wenn ein Kandidat, egal in welcher Partei, Plakate nachdruckt oder seinen Facebook-Auftritt aufrüstet, dann seufzen die anderen und legen nach. Sicher ist sicher. Auf vielen Kanälen im Internet senden zu müssen, das kann übrigens schnell zu viel werden. Das Portal Abgeordnetenwatch beobachtet, dass einige Antworten von Politikern einfach aus Wikipedia kopiert wurden. Ohne Quellenangabe, natürlich. Herr zu Guttenberg lässt grüßen.

Dabei gibt es auch noch selbstlose Auftritte. Der FDP-Bundestagsabgeordnete Burkhardt Müller-Sönksen etwa tritt auf einer hinterletzten Bezirksliste in Hamburg an, um mit seinem glänzenden Namen für seine Partei zu werben. In der Nacht zum Wahltag schenkt er im PJ's auf dem Kiez noch bis drei Uhr nachts alkoholfreie Getränke aus. Theoretisch dürfte er sogar beide Mandate behalten. "Aber bei meiner Platzierung ist sowieso klar, dass ich kein Bezirksmandat bekomme", sagt Müller-Sönksen.

Anders seine Bundestags-Kollegin Sylvia Canel. Auch wenn ein Direktmandat für die FDP nicht sonderlich wahrscheinlich ist, tritt Canel im Wahlkreis Alstertal an: Sie würde auf ihren Sitz in Berlin verzichten, wenn sie für die Hamburger FDP eine höhere Aufgabe in der Bildungspolitik übernehmen könnte. "Bildungspolitik ist überwiegend Ländersache, da würde ich meine Kompetenz gerne einbringen", sagte sie dem Abendblatt.

Zu erwähnen ist, dass im Fall einer Koalition zwischen SPD und FDP auch das Amt der Senatorin für Wissenschaft und Forschung winken könnte.