20 Stimmen pro Wähler gab es noch nie. Das personalisierte System bietet viele Chancen, hat aber auch einige Tücken

Hamburg. "Du hast vier Hefte vor dir liegen. Eines ist gelb, eines rosa, eines grün, eines blau. In jedem Heft sind viele kleine Kreise. Kreuze nun in jedem Heft fünf Kreise an. Höchstens fünf, nicht mehr! Wenn dir das zu viel ist, darfst du aber weniger als fünf Kreuze pro Heft machen."

Durchschnittlich begabte Grundschüler würden diese Aufgabe mit links lösen - die Bestnote für 20 korrekt gesetzte Kreuze nehmen sie im Vorübergehen mit. Die Befürchtungen, das erstmals angewandte Wahlrecht werde die Wähler überfordern, scheinen also zumindest mit Blick auf die grundsätzliche Aufgabenstellung - je fünf Kreuze in vier verschiedene Hefte - übertrieben. Zumal auf allen Wahlunterlagen und Stimmheften kurz und verständlich beschrieben ist, was dort zu tun ist und welche Möglichkeiten es gibt. Die hohe Zahl der Briefwähler deutet auch darauf hin, dass sich viele Bürger intensiv vorbereiten.

Dennoch sind die Sorgen nicht ganz unberechtigt. Denn die 20 Stimmen bieten nicht nur viele Chancen und geben den Wählern deutlich mehr Einfluss auf die personelle Zusammensetzung des Parlaments - so wie es sich die geistigen Väter des Wahlrechts von der Initiative "Mehr Demokratie" gewünscht hatten. Sondern die große Freiheit an der Wahlurne verlangt den Bürgern auch einiges ab und hat einige Tücken. Es geht ja nicht nur darum, 20 Kreuze korrekt zu setzen. Es geht auch um die Frage, was welches Kreuz eigentlich bewirkt. Was ist der Unterschied zwischen Landes- und Wahlkreislisten? Welchen Unterschied macht es, ob ich eine Parteiliste ankreuze oder einen Kandidaten direkt wähle? Um das zu verstehen, ist es sinnvoll, sich vor dem Gang ins Wahllokal mit der Wahl, dem neuen Wahlrecht und seinen Möglichkeiten auseinanderzusetzen.

Darum findet die Wahl jetzt statt: Regulär hätten die Hamburger erst im Frühjahr 2012 wieder wählen sollen. Doch nach dem Bruch der schwarz-grünen Koalition Ende November hat die Bürgerschaft, das Hamburger Landesparlament, beschlossen, dass sie und ihre sieben Regionalausschüsse (Bezirksversammlungen) jetzt neu gewählt werden sollen.

Letztmals beide Wahlen an einem Tag: Dass Bürgerschaft und Bezirksversammlungen am gleichen Tag gewählt werden, wird es künftig nicht mehr geben. Um ihre Bedeutung zu stärken, werden die Bezirkswahlen künftig von der Bürgerschaftswahl entkoppelt und am Tag der Europawahl stattfinden. 20 Stimmen - je zehn für Bürgerschaft und Bezirksversammlung - können die Hamburger also vermutlich nie wieder an einem Tag vergeben.

So wird die Bürgerschaft gewählt: Das Landesparlament hat 121 Sitze, von denen nur noch 50 über die Landeslisten der Parteien vergeben werden (früher alle) und 71 über die Wahlkreise. Jeder Wähler hat zehn Stimmen für die Bürgerschaft, je fünf für die Landesliste und fünf für die Wahlkreisliste. Wichtig: Für die Sitzverteilung in der Bürgerschaft - also die Frage, wer den Bürgermeister stellen darf - sind allein die Kreuze auf den Landeslisten maßgebend. Es spielt keine Rolle, ob sie für die Gesamtliste einer Partei oder direkt für Kandidaten abgegeben wurden - für die Sitzverteilung werden alle Stimmen einer Partei addiert. Diese Stimmen werden am Wahlabend zuerst ausgezählt.

So vergeben Sie die fünf Stimmen auf der Landesliste (gelb): Auf den Landeslisten, das ist das gelbe Heft, stehen die Kandidaten in der von den Parteien und Wählervereinigungen festgelegten Reihenfolge, also zum Beispiel Bürgermeister Christoph Ahlhaus auf Platz eins der CDU-Liste und Olaf Scholz an der Spitze der SPD-Liste. Die Wähler können insgesamt fünf Kreuze auf den Listen machen. Es ist ihnen überlassen, ob sie alle fünf Stimmen einer Liste geben (also die Reihenfolge der Parteien akzeptieren), ob sie sie lieber direkt einem Kandidaten geben oder auf mehrere Kandidaten unterschiedlicher Parteien verteilen wollen. Alles ist möglich, Hauptsache, es werden nicht mehr als fünf Kreuze gemacht.

Die "Personalisierung" der Landesliste: Die Möglichkeit, auch Landeslisten-Kandidaten direkt zu wählen, ist neu in Hamburg. Machen die Wähler davon rege Gebrauch, können sie bewirken, dass ein Kandidat von einem scheinbar aussichtslosen Platz der Liste es doch ins Parlament schafft, während ein aussichtsreich Platzierter vielleicht außen vor bleibt. Genau diese "Einmischung" hatten vor allem SPD und CDU lange zu verhindern versucht.

Ein Beispiel, wie sich entscheidet, wer über die Landesliste ins Parlament einzieht : Angenommen wird, dass zehn Prozent der Stimmen auf Parteien entfallen, die es nicht über die Fünf-Prozent-Hürde schaffen. Von den verbleibenden 90 Prozent entfällt die Hälfte (45 Prozent) auf Partei A - also stehen ihr etwa 60 von 121 Sitzen in der Bürgerschaft zu. Da sie in den Wahlkreisen 36 Mandate direkt gewonnen hat, kommen also nur 24 Kandidaten über die Landesliste ins Parlament. Da aber 50 Prozent ihrer Landeslistenstimmen direkt an Kandidaten vergeben wurden, ziehen zunächst die zwölf Kandidaten mit den meisten Stimmen ein, unabhängig von ihrer Platzierung auf der Liste. Erst danach werden die verbleibenden zwölf Plätze nach der Platzierung auf der Liste vergeben.

So funktioniert die Wahlkreisliste (rosa): 71 Sitze in der Bürgerschaft werden über die 17 Wahlkreise vergeben. Sie stellen je nach Bevölkerungszahl drei bis fünf Abgeordnete. Auch auf dem rosafarbenen Wahlkreisstimmzettel kann jeder Wähler fünf Kreuze machen, im Gegensatz zur Landesliste kann er aber nicht für eine Parteiliste insgesamt stimmen, sondern er muss bis zu fünf Kreuze direkt bei den Kandidaten machen - eine reine Personenwahl. Man kann alle Stimmen einer Person geben (kumulieren) oder auf mehrere Kandidaten, auch unterschiedlicher Parteien, verteilen (panaschieren).

Welcher Wahlkreiskandidat ist gewählt? Aus den Wahlkreisen ziehen nicht schlicht die Kandidaten in die Bürgerschaft ein, die die meisten Stimmen bekommen haben. Zunächst wird ausgezählt, auf welche Partei oder Wählervereinigung wie viel Prozent der Stimmen entfallen. Daraus ergibt sich, welcher Partei wie viele Abgeordnete aus diesem Wahlkreis zustehen. Erst dann wird ermittelt, welche Kandidaten dieser Partei die meisten Stimmen erhalten haben. Die Reihenfolge auf dem Stimmzettel spielt dabei keine Rolle - auch an diesem Punkt wurde der Einfluss der Parteien beschnitten.

Eine mögliche Ungerechtigkeit: Das Auszählverfahren im Wahlkreis kann dazu führen, dass nicht die Kandidaten mit den meisten Stimmen ein Mandat erringen. Ein Beispiel: Der großen Partei A stehen aufgrund der Stimmverteilung zwei der vier Wahlkreismandate zu. Die von ihr errungenen Stimmen verteilen sich aber relativ gleichmäßig auf zehn Kandidaten. Die kleine Partei B hat insgesamt zu wenige Stimmen errungen, um ein Mandat zu erhalten. Aber ihre Stimmen hat fast alle ein einziger Kandidat bekommen. Dann könnte es so sein, dass dieser Kandidat der Partei B mehr Stimmen hat als der zweitbeste der Partei A - dennoch geht er leer aus. Auch der umgekehrte Fall ist denkbar.

So werden die Bezirksversammlungen gewählt (grünes und blaues Heft): Die Bezirksversammlungen werden weitestgehend nach den gleichen Regeln gewählt wie die Bürgerschaft. Jeder Wähler hat zehn Stimmen, fünf für die Bezirkslisten der Parteien und fünf, die er auf Wahlkreiskandidaten verteilen darf. Auch die Bezirksversammlungen setzen sich etwa im Verhältnis 60 zu 40 aus Wahlkreis- und Listenkandidaten zusammen. Neuheit: Für den Einzug in die Bezirksversammlungen gilt nicht mehr die Fünf-, sondern die Drei-Prozent-Hürde.

Das Wichtigste zum Schluss: Maximal fünf Kreuze pro Stimmheft! Weniger ist erlaubt, ab sechs Kreuzen ist das Stimmheft ungültig.