In der Woche vor der Wahl entwerfen fünf Hamburger Persönlichkeiten im Abendblatt ihre Vision für die Zukunft der Stadt. Teil 5: Michael Batz

Immer wenn ich über Kultur in Hamburg nachdenke - was mich anstrengt wie ein Arztbesuch -, fliehe ich zu Salibas Restaurant in die Alsterarkaden. Ich brauche einen Ort, an dem ich mich weit weg fühle, ohne weg zu sein. Mit einem Mal kann ich wie aus der Ferne wieder eine Sehnsucht nach Europa entwickeln, einer geistigen Bild-, Klang-, Raum- und Ideengeschichte, die in den konfektionierten Tourismus-Formaten so gut wie keinen Resonanzboden findet.

Ohne dass ich etwas gegen Tourismus hätte. Tourist bin ich schließlich selbst, wenn ich verreise. Erst über die Entfernung stellt sich diese kulturelle Identität wieder her, die doch so entscheidend wäre und ist im Alltag. Eine Lebensform, die mal aus Fremdheit, Not und Lust etwas Schöpferisches herzustellen gewusst hat. Was nichts mit der Vokabel 'kreativ' zu tun hat, längst ein Plagiatswort wie 'Bio'.

Ach, was haben wir in den vergangenen 30, 35 Jahren nicht alles geträumt, gefordert, versucht: Kinder- und Jugendkultur, Stadtteilkultur, Projektkultur. Wie viel ist davon wieder einkassiert worden. Hört man Beteiligte davon erzählen, vereinigen sich Ströme von Melancholie und Wut zu einer gefühlten zweiten Binnenalster.

Wozu Verstiegenheit und unsinnige Konkurrenz mit Metropolen, die es wirklich sind ? Don Quixote, der eine Agentur nach der nächsten beauftragt, gewinnt keine Weltmeisterschaft. Eine eigene Handschrift zu wagen, die eigenen Potenziale zu entwickeln, das erfordert ein Bekenntnis zur Autorenschaft, mit anderen Worten eine größtmögliche Nähe zu den Künstlern. Eine Kultur der Zukunft holt die Kunst an der Quelle ab. Das wichtigste Förderinstrument, Aufmerksamkeit, ist noch wichtiger als Geld. Sie stiftet nämlich Diskurs, Klarheit, das Gefühl, beachtet und ernst genommen zu werden. Von Geld will ich deshalb gar nicht reden, dazu ist alles gesagt worden.

Es müsste her, und zwar als Investition in die Freiheit der Künste und Pflege des kulturellen Erbes, nicht in der merkantilen Gegenrechnung unmittelbar greifbarer Rendite. Mit der Durchkapitalisierung der Welt ist keine Kultur zu machen, und radikale Geschenke waren bisher auf Dauer gesehen immer die beste Investition. Darum brauchen wir auch nicht mehr Hochkultur, sondern viel mehr Hochkultur. Die Vorstellung, in 50 Jahren könnte niemand mehr die 'Matthäus-Passion' live singen, macht beklommen.

Bei Espresso und süßen Sünden lasse ich mich hinreißen, zu meinen Visionen von Hamburg: Der Begriff der Internationalisierung findet nicht nur technisch im Netz, wirtschaftlich im Hafen, sondern programmatisch in den Projekten Hamburgs statt. Die Stadt selbst öffnet sich als Projektionsfläche, kommuniziert öffentlich, aber mit einem Minimum an Pagodenzelten. Setzt sich über die Wagenburg-Mentalität in vielen Institutionen hinweg, setzt auf Öffnung, Austausch und Mix. Schafft Wir-Gefühle ohne Unmengen von CO2-Emissionen. Fällt nicht auf jeden Entwicklungsrausch rein. Inspiration braucht Erinnerung, Gebrauchsspuren, ja auch manchmal Dreck, wilde Quartiere. Und Mut. Mut zu Lösungen, herrschaftsfreie aber disziplinierte Arbeit, das Ansprechen und Mitnehmen von heterogenen Gesellschaftsteilen, Zuhören, Einbeziehen, Kennenlernen, die Art von Kulturarbeit ist etwas ziemlich anderes als politischer Retro-Klamauk.

Also: Es gibt eine echte, langfristige Kinder- und Jugendkulturförderung. Der Umfang der Projektmittel nimmt deutlich zu. Die Ensembles der Theater spiegeln in ihrer sozialen Zusammensetzung die wirkliche Situation der Gesellschaft wider. Es gibt wieder eine Neugier aufeinander, ein Anknüpfen an die Lebenswirklichkeit, ein Ekel vor Mittelmäßigkeit und Arroganz.

Hamburg ist Hauptstadt? Ach ja, Thema Umwelt. Richtig, die Info-Box am Hauptbahnhof. Ist das wirklich alles? Der Blick auf das stürzende Wasser in der Alsterschleuse macht klar: Was einmal weg ist, ist weg. Muss aber nicht sein, denn der Vorteil ist: Denken ist erneuerbar.