Dem Visionär ist nichts zu schwer, also steige ich die 295 Stufen bis zur Aussichtsplattform des Kirchturms von St. Katharinen empor. Von oben kann ich nicht nur weiter sehen, sondern bin auch dem Himmel ein Stück näher, der ja bekanntermaßen die schönsten Visionen der Menschheit auf sich vereint. Im himmlischen Paradies leben die Menschen und Völker friedlich miteinander, die Tränen des Leids werden verwandelt in Tränen der Freude, dort werden alle satt und erfahren die Gerechtigkeit, die ihnen auf Erden versagt geblieben ist.

In 100 Meter Höhe also schaue ich auf unsere Stadt und stelle mir ein himmlisches Hamburg vor: Gen Süden sehe ich die belebte HafenCity, die Elbe und den Hamburger Hafen, das pulsierende Herz der Stadt. Die Schiffe der Weltmeere bringen ihre Fracht an die Kaimauern und die Container-Terminals sind gut bestückt. Es ist so reichlich für alle da, dass auch die Hafenarbeiter und Seeleute den Sonntag ruhen können und die Kräne stillstehen.

Noch weiter südlich sehe ich in Wilhelmsburg und Harburg, wie Menschen unterschiedlicher Nationen friedlich zusammenleben, ihre religiösen und kulturellen Identitäten weder verstecken noch gegen andere verteidigen.

In Hamburg gibt es derzeit 184 Nationalitäten, wie spannend wäre es, wenn sich diese stärker mischten und wir durch Straßen zögen, in denen Afghanen neben Algeriern, Chinesen neben Chilenen, Polen neben Portugiesen leben und ihre eigene Kultur einbringen. Da gibt es die Quartiere, in denen Einheimische und Migranten in guter Nachbarschaft wohnen, meinethalben auch solche, die stärker von hanseatischer Distanz geprägt sind. Vielfalt gehört in diese Stadt: das Szeneviertel und das bürgerliche Milieu, St. Pauli und die Elbchaussee, die Veddel und die Vierlanden. Wenn ich mich von Katharinen aus nach Westen wende, liegt die Elbphilharmonie in meinem Blick. Ich höre großartige Konzerte. Ich sehe die junge Generation bei Bach und die alte bei Brönner, internationale Festivals, die all das bewirken, was Kunst für uns so unverzichtbar macht: Sie kann bezaubern und verführen, verstören und irritieren, aufrütteln und bewegen.

Ich sehe die Kleinkunst im Aufwind, die Theater, Kinos und Museen für all jene offen, die sich diese heute nicht leisten können, und kreative Künstler auf den Straßen und Plätzen, in den Kirchen und Schulen. Im Norden von Katharinen liegt die Altstadt hinter einer überdachten Willy-Brandt-Straße. Im Rathaus regieren unsere Besten auf der Suche nach dem Besten für unsere Stadt: Frieden, Gerechtigkeit, Bildung, Wohlstand und die Bewahrung der Schöpfung sind ihre Ziele, Fairness und Transparenz, Dialog und Bürgerbeteiligung sind die probaten Mittel.

Regelmäßig laden sie sich Kinder und Jugendliche ein und hören ihnen einfach nur zu! Außerdem gehen sie zu den Obdachlosen und in die Gefängnisse, in die Arbeitsämter und Diakonischen Einrichtungen und lernen die Sorgen all derer kennen, denen der Himmel verschlossen scheint. Der Blick nach Osten geht über die Stadtgrenzen hinaus und entdeckt die vielen Verbindungen, die Hamburg zur Ostsee, nach Osteuropa, ja bis nach China pflegt. Hamburg muss in meiner Vision keine Weltstadt werden wie London oder Paris, weder Megacity noch Meltingpott. Wichtiger als maßlose Größe oder ein überbordender Anspruch scheint mir die geistige Haltung, mit der wir unsere Stadt entwickeln. Die Humanität sollte ihr Kennzeichen sein. Diese misst sich am Umgang mit den schwächsten Gliedern der Gesellschaft. Wenn es uns gelingt, auch ihnen eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen, kommen wir möglicherweise dem Himmel ein Stück näher. Lasst uns also mit Augenmaß wachsen und einander mit Achtung begegnen.

Das geschieht in den Mühen der Ebene, in die ich nun wieder hinabsteige, die Vision des himmlischen Jerusalem vor Augen und im Herzen: Das sind offene goldene Tore und schmuckvolle Bauten, blühende Gärten und Ströme lebendigen Wassers, Menschen aller Nationen und Engel aller Art und mittendrin Gott, der alle Tränen abwischt und seine Herrlichkeit leuchten lässt. Ein Stück vom Himmel auch für Hamburg.