Der Pastor von St. Petri in Altona soll in der Kirche eine Frau vergewaltigt haben. Die Gemeinde kommt nicht zur Ruhe - eine Spurensuche.

Hamburg. Den Tatort kann jeder besichtigen. Jeden Tag von 10 bis 18 Uhr, so lange ist die St.-Petri-Kirche in Altona geöffnet. Ob Kleinkind, Rentnerin oder Manager - jeder soll jeden Tag hier beten können. Ein Besuch in der offenen Kirche sei wie ein eigener Gottesdienst, hat Pastor Michael G. einmal in einer Predigt gesagt. Und: "Die Kirche ist ein besonderer, ein heiliger Ort."

Ausgerechnet hier, auf einer Kirchenbank, soll er am Buß- und Bettag eine Frau vergewaltigt haben. Vergewaltigt, nachdem man zuvor einen Gottesdienst gefeiert und sich anschließend zusammen betrunken habe, heißt es, was Monate später erst öffentlich wurde.

Es ist ein sehr schwerer Vorwurf. Ein Vorwurf, über den jeder in der Gemeinde redet, aber niemand öffentlich reden will. Nun äußert sich erstmals Propst Horst Gorski auf Abendblatt-Nachfrage zu dem Fall. "Zu welchem Ergebnis die Staatsanwaltschaft auch kommen mag, es ist schon jetzt eine Geschichte, aus der viele leider beschädigt hervorgehen werden", sagt er.

Die alte Dame, die auf dem kleinen Messingständer am Eingang der Kirche gerade eine weiße Kerze anzündet und in den Sand steckt, betet für Pastor G. Der Mann, der ihre Tochter getraut und die Enkelin der Nachbarin getauft hat, der sei zu so etwas gar nicht fähig, sagt sie. Freundlich sei er, nachdenklich, klug, bodenständig. Kein Mann, der sich nach dem Gottesdienst betrinkt. Ein Familienmensch. Die alte Dame zeigt auf die Ecke neben dem Eingang. Auf dem Steinboden liegt eine Krabbeldecke, auf einem Tischchen Buntstifte und Holzklötze. Pastor G. habe die Kirche zu einem fröhlichen Ort gemacht, einem Ort für die ganze Familie, sagt sie.

Die Glocken läuten. Pastor G. hört sie jetzt auch - in seiner Wohnung direkt neben der Kirche. Alle 15 Minuten. Es heißt, er verlasse die Wohnung nur, wenn es draußen dunkel ist, damit ihn niemand sehen, ihm niemand auflauern kann. Zwei Tage vor Weihnachten hat ihn Propst Gorski vom Dienst suspendiert. Seitdem stehen die Telefone im Gemeindebüro nicht mehr still. "Wir gehen hier durch die Hölle", sagt eine Mitarbeiterin, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen will. Besorgte Eltern, empörte Rentner, neugierige Reporter - alle wollen sie wissen, was in jener Nacht des Buß- und Bettags geschah.

Ihre Sicht der Dinge hat das Opfer, der "Bild"-Zeitung geschildert. Pastor G. hat bislang geschwiegen. Zum Abendblatt sagte er jetzt: "Solange die Ermittlungen andauern, will und werde ich mich öffentlich nicht äußern."

Zurück bleibt die Ungewissheit - und eine Lücke. Innerhalb weniger Tage hat die Gemeinde nicht nur ihren Pastor, sondern auch zwei Mitglieder des Kirchenvorstandes verloren. Einer von ihnen ist Stefan K.. Für ihn ist die Art und Weise, wie der Kirchenvorstand mit der Affäre umgegangen ist, der Auslöser gewesen, sein Amt niederzulegen.

Die alte Dame ist nicht gut auf das Opfer sprechen. "Sie hätte die Kirche rein halten sollen", sagt sie. Ihre Geschichte höre sich an wie die eines Teenagers. Die Frau hatte gesagt, sie sei zu betrunken gewesen, um sich gegen den Pastor zu wehren. "Eine erwachsene Frau sollte wissen, wie viel sie verträgt", sagt die Dame.

Sie glaubt, dass die Frau sich in den Pastor verliebt hat. Dass der Pastor ihre Annäherungsversuche abgewehrt und sie ihn aus Rache angezeigt habe.

In der Gemeinde kursiert noch eine zweite Version der Geschichte. Darin kommt der Pastor nicht so gut weg. Er sei mit der Frau im Kino gewesen, heißt es. Er habe mit ihr die Nacht in der Kirche verbracht und ihr Versprechungen gemacht, die er dann nicht halten konnte. Eine Vergewaltigung kommt auch in dieser Version nicht vor, doch allein die Vorstellung, dass der verheiratete Pastor eine Affäre gehabt haben könnte, lässt viele schaudern.

"Ich weiß, dass es jetzt in der Gemeinde einigen Menschen richtig schlecht geht", sagt Gorski. Er habe selbst mit vielen geredet, den Seniorenkreis besucht, an Sitzungen des Kirchenvorstands teilgenommen und Gottesdienste gehalten.

Der junge Mann auf dem Weg zur Kirche ist wütend. "Man hat gesehen, dass sich die beiden gut verstehen", sagt er. Der Pastor habe der jungen Frau wenige Tage nach ihrer Einführung ins Kirchenamt das Du angeboten. Darüber habe sich aber niemand gewundert, viele durften den Pfarrer duzen. Der junge Mann hat auch schon einmal in der Kirche übernachtet. Das sei Tradition in der Nacht auf Ostersonntag. Die Kinder würden auf Matratzen oben bei der Orgel schlafen, die Erwachsenen in den Kirchenbänken.

Vor der ersten Kirchenbank beim Eingang, neben dem Messingständer mit den Kerzen, steht ein Holztisch, darauf liegt ein in Leder gebundenes Buch, dick wie ein Fotoalbum. Ein Gästebuch. Pastor G. hat es im vergangenen Sommer dort hingelegt. Viele Menschen haben seitdem Sorgen, Wünsche, Danksagungen auf die Seiten geschrieben. Die letzten Eintragungen sind fast alle an Pastor G. adressiert.

"Lieber Pfarrer Michael, wir denken an Dich in diesen schweren Zeiten und hoffen, dass alles bald überstanden ist", schreibt Sarah. "Gott, nimm mir meine Wut", steht daneben.

Die Wut nehmen, zuhören, trösten, das versucht Bernd Schlüter. Seit dem 1. Januar leitet er als Vertretungspastor die St.-Petri-Gemeinde. Für jeden Gottesdienst reist er aus Rissen an. Dass er in die Wohnung neben der Kirche ziehen wird, in der jetzt Michael G., seine Frau und drei Kinder wohnen, ist unwahrscheinlich. Vertretungspastoren bleiben selten in der Gemeinde, und Schlüter hat sich schon auf verschiedene Stellen beworben.

Die Entscheidung über die berufliche Zukunft von Pastor G. trifft letztendlich das Nordelbische Kirchenamt in Kiel. Es muss klären, ob er in der Gemeinde noch glaubwürdig Predigten halten und Paare trauen kann, ob die Menschen ihm noch vertrauen. Sollte G. versetzt werden, könnten sich Pfarrer aus ganz Norddeutschland auf die Stelle bewerben.

Das Kirchenamt wird allerdings erst aktiv, wenn die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft abgeschlossen sind. Bis das strafrechtliche Verfahren und das Disziplinarverfahren beendet sind, könne noch viel Zeit vergehen, sagt Gorski. "Das braucht Zeit, die für alle schwer auszuhalten sein dürfte."

St. Petri ist eine schlichte Kirche, hell, freundlich. Sie ist aus Backstein, die Wände weiß verputzt. Es gibt keine Verzierungen aus Gold, keinen Jesus am Kreuz, keine Auferstehungsbilder. Jeden letzten Sonntag im Monat trifft sich die Gemeinde dort abends statt morgens. Möglichst viele Menschen in den Gottesdienst holen, einen modernen Glauben leben mit Spielecke, offener Tür und gemeinsamem Gebet im Altarraum war das Ziel von Pastor G.

1700 Mitglieder hat die Gemeinde, 40 bis 50 besuchen regelmäßig den Gottesdienst, treffen sich im Seniorenkreis, zur Andacht, zu Konzerten oder Vorträgen. Den geplanten Vortrag von Vertretungspastor Bernd Schlüter zum Thema "Scheitern - und neu anfangen" wollen sie aber nicht hören, nicht jetzt, nicht hier. Zu groß ist die Angst, dass sich unter die Zuhörer Neugierige mischen und Fragen stellen. Fragen, die wehtun, Fragen, auf die niemand eine Antwort weiß. Auf Wunsch des Kirchenvorstandes hat Schlüter seinen Vortrag auf den 29. März in die Apostelkirche nach Eimsbüttel verlegt.

Was ein solcher Vorfall für eine Gemeinde bedeute, hänge stark von ihrer Bindung an den Pastor ab, sagt Hans-Martin Gutmann, Professor für Evangelische Theologie an der Universität Hamburg: "Wenn die Menschen ihn als vertrauenswürdige Person erlebt haben und er als Seelsorger für sie präsent war, kann dies eine massive Verlusterfahrung sein, die auch große Trauer auslöst." Da Pastoren in der Gesellschaft sehr geachtet seien, sei die Fallhöhe dieses Berufsstandes sehr hoch.

Bernd Schlüter hält an diesem Abend den Sonntagsgottesdienst zum fünften Mal. Der Odem, der Atem ist das Thema. "Wer immer arbeitet wie ein Pferd, fleißig ist wie eine Biene, abends müde ist wie ein Hund, der sollte zum Tierarzt gehen, denn vielleicht ist er ein Kamel ..." predigt Pastor Bernd Schlüter heute.

Die Menschen in den Kirchenbänken wechseln erstaunte Blicke, dann lachen sie doch. "Sympathisch, aber anders", sei der Vertretungspastor, wird eine junge Frau nachher sagen. Pastor G. habe nie Witze in seine Predigten eingebaut.