"Jeder Idiot kann mit einer Krise fertig werden. Aber das alltägliche Leben, Tag für Tag, das macht dich fertig." Dieser Gedanke von Anton Tschechow mag in den Ohren derer, die sich gerade in einer Krise befinden und viel durchmachen müssen, vielleicht sarkastisch klingen. Und doch hat er einen weisen Kern: Denn jede Krise hat etwas Reinigendes. Man kann ihr nicht ausweichen. Und so muss man mit ihr fertig werden und kommt dabei nicht umhin, sich mit dem Grund und Abgrund des eigenen Lebens auseinanderzusetzen. Das schärft den Blick für das Wesentliche und lehrt darauf zu achten, was wirklich wichtig ist im Leben, wer die wahren Freunde sind und worauf man sich verlassen kann oder eben nicht.

Deswegen ist die Krise auch das Urerlebnis des Glaubens. In einer Krise erkenne ich die Grenzen meiner selbst, ich verstehe in solch einer Situation, dass ich angewiesen bin auf "Kräfte von außen". In der Krise ist der Weg zu Gott eher kurz. Immer wieder höre ich von Menschen, dass sie in beruflichen, gesundheitlichen oder politischen Krisen oder auch bei der Geburt eines Kindes neu darüber nachdenken und spüren konnten, dass das menschliche Leben eine sehr zarte Pflanze ist, die angewiesen ist auf Regen und Sonne von oben.

Doch dann, im Alltag, macht sich dieses religiöse Bewusstsein auf leisen Sohlen davon. Schließlich lebt der Alltag von einer gewissen Gleichförmigkeit und Gewöhnung sowie von dem Trugschluss, wir hätten alles im Griff. Und wo man alles mehr oder weniger im Griff zu haben glaubt, verliert man schnell das Gefühl für die eigenen Grenzen. Deshalb ist es sehr viel schwerer, Gott im Alltag zu begegnen als in einer Krise.

Ein Leben im Bewusstsein um die eigenen Grenzen macht den Alltag reicher und intensiver. Denn Alltag und Krise gehören zusammen, weil der Alltag nicht ewig dauern kann. Und wenn die Erinnerung an vergangene Krisen uns hilft, die eigenen Grenzen zu erkennen und Gott auch im Alltag zu suchen, dann lässt sich jeder Tag in seiner Fülle ganz anders erleben. Dann gewinnt selbst der Alltag an Tiefe.

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