Claudia Sewig stellt jede Woche Hagenbecks Tiere vor.

Stellingen. Wotan, Wodan, Óðinn, Woden, Uuoden, Wuotan, Woðanaz oder auch Odin - für den Hauptgott in der nordischen Mythologie und Religion gibt es viele Namen. Volker Friedrich nennt den Herrscher im Bison-Gehege Wotan. Das imposante Tier sei hier der unumstrittene Chef - "gleich hinter mir, nur ich wiege nicht ganz so viel", sagt der Reviertierpfleger in Hagenbecks Tierpark und lacht.

Gut eine Tonne Gewicht bringt der Bison-Bulle auf die Waage. Seine Frauen wiegen mit 550 bis 600 Kilogramm deutlich weniger. "Wotan ist aber auch ein relativ großes Tier", sagt Friedrich über den 15 Jahre alten Bullen, der bei einer Lebenserwartung von rund 30 Jahren im besten Mannesalter ist. Als er ein halbes Jahr alt war, kam er aus einem dänischen Tierpark nach Hamburg. Friedrich: "Seine Eltern stammen noch aus Amerika."

Genau genommen sind Wotan und seine Herde - fünf Kühe und drei Kälber vom vergangenen Jahr - Amerikanische Bisons, denn unter der Bezeichnung Bison wird auch noch der in Europa vorkommende Wisent gefasst. Beide sind auf der Nordhalbkugel verbreitete, nahe verwandte Wildrinder, die sich problemlos kreuzen lassen.

Ihren gemeinsamen Vorfahren, den Steppenwisent, kennt man heute noch von Höhlenmalereien in Altamira, Lascaux und Chauvet. Er überquerte während der Eiszeit (im frühen bis mittleren Pleistozän) die Landbrücke zwischen Sibirien und Alaska (die heutige Beringstraße) und besiedelte die nördlichsten Teile Nordamerikas. Die heutigen, kurzhörnigen Unterarten des Bisons entwickelten sich schließlich vor rund 6000 Jahren.

Anfänglich vermehrten sich die Steppenbewohner rasant. "Das kommt auch, weil sie sehr genügsam sind, weniger Wasser als Rinder brauchen und vor allem extreme Temperaturen abkönnen", sagt Friedrich. Minus 50 Grad Celsius sei nichts für die massigen Tiere mit dem dunkelbraun bis rötlichbraunen Fell. "Doch ihre gute Isolierung kann auch kühl halten - im Sommer liegen sie in der prallen Sonne", berichtet der Reviertierpfleger.

So besiedelten einst geschätzt 60 Millionen Bisons die Prärien Nordamerikas, und ihre Bejagung durch die Indianer, die so ziemlich alles von den Tieren nutzten (vom Fleisch über das Fell bis zu Sehnen und Hörnern), dezimierten diese Zahl nicht. Das schafften erst die Weißen mit ihren Schusswaffen. So kam es, dass 1902 gerade noch 23 Tiere übrig waren, die im 1872 gegründeten Yellowstone-Nationalpark ein Rückzugsgebiet fanden. US-Präsident Theodore Roosevelt persönlich setzte sich dafür ein, das die Armee gegen die Wilderei im Park vorging, was den Tieren schließlich das Überleben sicherte. Heute werden im Mittleren Westen der USA wieder rund 350 000 Bisons gezählt, weshalb der Amerikanische Bison nur noch als "gering gefährdet" eingestuft wird.

Als gefährlich seien die mit 3,80 Meter Länge größten nordamerikanischen Säugetiere hingegen definitiv zu betrachten, sagt Friedrich: "Zu den Bison-Bullen gehen wir nicht rein, die haben jeweils einen eigenen Stall. Und bei Kühen, die Kälber haben, sollte man auch vorsichtig sein." Wobei, so schiebt er gleich hinterher, Wotan schon "ein ganz Lieber, Ruhiger" sei. Friedrich: "Sein Vorgänger hat dagegen noch den Stall auseinandergenommen, deshalb haben wir die Wände mit Eisenbahnschienen verstärkt."

Wotan hat diese speziellen Sicherheitsmaßnahmen bisher nicht überprüft. Seinen Dickkopf setzt er höchstens beim Fressen ein. "Dabei ist er immer der Erste und steht auch meistens mittendrin." Gefüttert werden die Bisons mit Heu, im Sommer mit Gras, und im Winter gibt es zusätzlich Futterrüben. Wenn eines der Tiere verladen werden soll, wie es in diesem Jahr mit den drei Kälbern der Fall sein wird, kommen als Lockmittel trockene Brötchen zum Einsatz.

Friedrich schätzt die gelassenen Tiere, von denen er nur bei Aufregung ein Grunzen hört. Auch die Mitbewohner im Bison-Gehege, die Kanadagänse, können nicht (mehr) klagen: Anfänglich wurden sie von den Säugetieren noch wild umhergescheucht, doch mittlerweile ist Ruhe in die WG eingekehrt. Wahrscheinlich weil die Rangordnung jetzt klar ist, und die ist den Herdentieren nun einmal extrem wichtig.

Eines wird man bei Hagenbeck allerdings nicht sehen können: dass Bisons 50 km/h erreichen können und gute Schwimmer sind. Aber hier ist ja auch niemand hinter ihnen her.

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