Stellingen. Simone ist nicht eine, sondern viele. Das Phänomen der multiplen Persönlichkeit gehört für Korallen zum Alltag; leben die winzigen Tiere doch in Kolonien zusammen, die ihr Erscheinungsbild ausmachen. Polyp an Polyp an Polyp ist somit auch kein Fall für den Hals-Nasen-Ohren-Arzt, sondern auf Grundlage eines Kalkskeletts das, was wir langläufig als "eine Koralle" bezeichnen.

Simone also, eine heute 40 Zentimeter große Griffelkoralle, kam 2007 als winziger Ausgangsstock nach Hamburg. "Wir haben sie von einem internationalen Korallenzucht-Projekt aus England", sagt Dr. Guido Westhoff, Leiter des Tropen-Aquariums in Hagenbecks Tierpark. Damals war sie gerade einmal fingernagelgroß, ein sogenannter "nubbin", wie Westhoff erklärt: "Das sind kleine Stücke, die man auf sogenannte Coral stubs aufpflanzt - Zylinder aus Gips, die als Untergrundmaterial für die Koralle dienen."

Das Projekt in Hall verteilte weltweit nubbins an geeignete Institutionen, um mehr darüber zu erfahren, wie schnell und unter welchen Bedingungen Korallen wachsen. Simone hat sich dabei prächtig gemacht: Der Stock ist so ausgezeichnet gewachsen, dass Westhoff mittlerweile von ihr bereits mehrere kleine Ableger genommen hat, die an verschiedenen Stellen im Korallenriffbecken weiterwachsen.

Griffelkorallen (Stylophora pistillata) gehören zu den Steinkorallen und kommen unter anderem im Indopazifik vor. "Genau genommen gehören sie zu den kleinpolypigen Steinkorallen - und unter denen sind sie eine Art mit recht großen Polypen", sagt Westhoff. Jeder Polyp ist dabei ein einzelnes Tier. Wie bei allen Nesseltieren, zu den Korallen zählen, ist auch ein Steinkorallenpolyp becherförmig aufgebaut. Er hat eine zentrale Mund- und Ausscheidungsöffnung, die von Tentakeln umgeben ist. Damit fängt er Nahrung aus dem Wasser. "Wenn Besucher nah an die Scheibe herangehen, können sie die 'Ärmchen' der einzelnen Polypen erkennen", sagt Guido Westhoff. Werden die Polypen der Griffelkorallen doch fast einen Zentimeter groß.

Jeder Polyp sitzt in einem kalkigen Korallenkelch, der von dem Polypen nach unten ausgeschieden wird. Je mehr Altkelche übereinandergelagert werden, desto größer wird der Korallenstock - so wachsen Riffe. Dabei bleiben die einzelnen Polypen bei vielen Korallenarten trotzdem in Verbindung: Das tote Kalkskelett ist mit einem speziellen Gewebe überzogen, über das die Polypen Nahrungsstoffe austauschen und Reize weitergeben können.

Zu Simones Glück braucht es einen ganzen Fuhrpark an Technik

Bei der Art des Wachstums erklärt sich auch, warum zur Unterhaltung des großen Korallenbeckens mit seinen 57 000 Litern Wasser unter anderem drei Kalkreaktoren nötig sind. "Die Korallen entziehen dem Wasser ja kontinuierlich ihren wichtigen Baustoff. Um den Kalziumwert von 420 Milligramm pro Liter im Wasser zu halten, brauchen wir die Reaktoren", erklärt Westhoff. Und als rechter Aquarianer wartet er gleich noch mit den weiteren technischen Details der farbenreichen Unterwasserwelt auf: "20 000 Watt Licht bescheinen unser Riffbecken, an das auch noch drei Sandfilter, ein Bioreaktor und ein Eiweißabschäumer angeschlossen sind. Außerdem sorgen drei UV-Röhren für das Entkeimen des Wassers."

Steinkorallen bestechen durch ihre vielfältigen Wuchsformen: Manche sehen aus wie ein Ast, andere ähneln Geweihen, Zungen oder Gehirnen. Simone erinnert vielleicht am ehesten an eine Kreuzung aus Brokkoli und ganz winzigen Nadelbaumzapfen. Dazu zeigt sie eine eigentümliche, lila-bräunliche Färbung, die mal mehr, mal weniger leuchtet. "Wir können das steuern, über Spurenelemente im Wasser", erläutert Westhoff. "Die Farben können richtig quietschig werden."

Weitaus wichtiger für die Korallen als die Spurenelemente sind jedoch die Nahrungsschwebteile im Wasser. "Wir füttern unsere Korallen nicht extra mit Plankton, sonst würden die Filter verstopfen", sagt Westhoff. "Von der Fütterung der Fische bleiben immer noch genug kleinste Partikel für die Korallen übrig, die mit der Strömung über das Riff verteilt werden." Mehr als 50 Korallen- und auch mehr als 50 Fischarten wollen hier täglich satt werden. Die einen jedoch nicht von den anderen: "Alle Fische, die als Korallenpicker bekannt sind, haben wir bis auf ganz wenige Ausnahmen rausgefangen", sagt Westhoff.

Keine Gefahr also für Simone und Co. - auch nicht durch die berüchtigte Korallenbleiche. Diese setzt ein, wenn Korallen ihre winzigen Symbionten, die sogenannten Zooxanthellen, unter Stress ausstoßen und dadurch von ihnen nicht mehr mit Zucker und Stärke versorgt werden.

Aber wer damit leben kann, ganz viele zu sein, der macht sich auch keinen Stress.

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