Die Deutschen sind pessimistischer als andere EU-Bürger. Dabei geht es ihnen viel besser. Die Ursache für das Dauernörgeln ist eine grundsätzliche Lebensangst

Neulich im Supermarkt. Torben, fünf, schmeißt sich neben dem Regal mit Süßigkeiten auf den Boden und jammert mit hochrotem Kopf: "Ich will das aber haben!" Nicht umsonst heißen die Süßigkeiten an der Kasse "Quengelware"! Seine Mutter steht mit fast genauso rotem Kopf sichtbar genervt neben dem Wüterich und versucht es pädagogisch: "Komm, Torben, mach jetzt nicht so ein Theater. Du bekommst keine Schokolade. Gleich gibt's Abendbrot und dann isst du wieder nichts!"

Das kümmert Torben gar nicht und animiert ihn geradezu, noch ein paar Phon an Lautstärke draufzulegen: "Ich will aber!" Die anderen Kunden bleiben stehen, schütteln den Kopf, die Verkäufer werden aufmerksam. Der Begriff Rabenmutter liegt in der Luft. Die Situation wird für die Mutter immer bedrohlicher: "Gut, aber nur noch dieses eine Mal, hast du verstanden?"

Punktsieg für Torben.

Nicht nur Torben hat die Jammertaktik für sich entdeckt. Wir beobachten diese erfolgreichen Jammerstrategien bei Ehepartnern, Kollegen, Politikern und Wirtschaftsbossen. Was ist los in Deutschland?

Deutschland ist die größte Volkswirtschaft Europas und viertgrößte der Welt, war 2009 die zweitgrößte Export- und drittgrößte Importnation. Gleichzeitig sind die Deutschen Europas größte Jammerlappen: Laut "Euro-Barometer" 2009 sind Deutsche pessimistischer als andere EU-Bürger, haben mehr Ängste, was Wirtschaft und Arbeitslosigkeit angeht, als jedes andere EU-Land, dem es viel schlechter geht.

Deutsche jammern vor jedem großen Fußballturnier der Welt die Ohren voll und haben eine der weltweit erfolgreichsten Fußballmannschaften.

Deutsche sind die Urlauber, die laut einer Studie der British Airways von 2009 im Flieger am lautesten rummeckern, gleichzeitig ist Deutschland aber eine der reiselustigsten Nationen mit den meisten Urlaubstagen. Das können wirklich nur wir Deutsche.

Viele Deutsche haben im Vergleich zu Südeuropäern so eine gewisse Schwere im Alltag. Der deutsche Seelenkatarrh besteht darin, sich innerlich immer so ein bisschen unzufrieden zu fühlen. Immer noch an dem, was man hat, ein bisschen herumzumäkeln.

Wir beschreiben diese Grundstimmung am besten als "Grau".

Doch woher kommt dieses Grau?

Die Wurzeln der deutschen Jammerei liegen tief in der Vergangenheit. Absolutismus, preußische Tugenden, schwarze Pädagogik, Nazizeit, Obrigkeitsgläubigkeit und die Sehnsucht nach Regeln oder einer starken Hand führten zu einer Gesellschaft, die sich innerlich immer so ein bisschen unzufrieden fühlt, weil sie nach wie vor psychisch stark verunsichert ist. Um diese Unsicherheit zu kompensieren, muss man immer noch härter arbeiten, es noch besser machen. Wenn man Erfolg hat, muss man doch einfach irgendwann zufrieden sein, oder?

Nein, nicht wir Deutschen. Man weiß ja nie, was kommt, daher schuften wir immer weiter. Zufriedenheit macht faul. Wir aber sind fleißig. Auch deswegen trotzen wir so erfolgreich der Wirtschaftskrise.

Weil man eben nicht zufrieden ist.

Der Witz: Die meisten Menschen, die wir befragt haben, sagten ganz klar und überzeugt von sich: "Ich jammere nie!" Und die meisten sehen sich selbst auch so: tapfer mit den berühmten preußischen Tugenden dem Alltag die Stirn bietend. Gleichzeitig sagte fast jeder: "... aber in Deutschland wird über alles gemeckert."

Natürlich - es sind immer die anderen!

Das Ausland hat unsere zögerliche Selbstfindung als Deutsche sehr wohl beobachtet.

Das ist das, was im Ausland als "German Angst" betitelt wird.

Der Begriff "German Angst" bezeichnete den Hang der Deutschen zum Grübeln sowie ihre für Ausländer merkwürdige Zukunftsangst. Diese deutsche Angst treibt bizarre Blüten.

So sind nach einer Studie des Goethe-Instituts in Rom aus dem Jahre 2010 in keinem anderen Land so viele Haushalte und Personen versichert wie in Deutschland, wo es mehr Lebensversicherungspolicen gibt als Einwohner.

Quintessenz: Der Deutsche braucht seine Jammerstrategie, um seine grundsätzliche Lebensangst in den Griff zu bekommen und sich so sicherer zu fühlen. Er setzt sie unbewusst, manchmal aber auch gezielt ein, um von vornherein die Ansprüche nicht hochzuschrauben und damit nicht enttäuscht zu werden. Nur so ist er unbelasteter und kann aus dieser Position heraus nach vorne schauen.

Zurück zu Torben: Nicht nur er will seine Quengelware. Nein, auch wir Großen hätten so gern den neuen Pullover, die Markenjeans, das Auto oder endlich "Mr. Right", den perfekten Mann.

Solange wir dies alles - und noch mehr - nicht haben, sind wir unzufrieden und jammern. Und Torben sieht somit genügend Erwachsene um sich herum, an deren Modell er seine Nörgelei noch verfeinern kann ...