Die Rentnerin Helene S. wurde im Dezember Opfer eines brutalen Handtaschenraubs. Ein Gedenkkreuz in Hohenhorst soll an die Tat erinnern.

Hohenhorst. Der junge Mann mit den rotbraunen Haaren könnte es gewesen sein. Der ältere Herr mit der schwarzen Wollmütze. Oder der Typ mit der Zigarette in der Hand. "Keiner weiß, ob der Täter heute unter uns steht", sagt Dieter Westphal. Westphal spricht stockend. Er ist traurig und ratlos. Normalerweise redet der Mann vom Stadtteilbeirat Hohenhorst über Bauprojekte, Verfügungsfonds und Eltern-Kind-Zentren. An diesem grauen Montag versucht er, sinnlose Gewalt in sinnvolle Worte zu fassen.

Es ist der 31. Januar, 12.05 Uhr. Rund 30 Menschen haben sich versammelt in der Charlottenburger Straße vor Haus 81 im Ortsteil Hohenhorst am östlichen Stadtrand von Hamburg. Sie rücken für einen Moment zusammen, um die Betroffenheit besser ertragen zu können. Einige weinen. Die meisten schütteln den Kopf. Weil sie es nicht fassen können, was hier, am Rande der Metropole, am helllichten Tag, in einer belebten Straße passieren kann. Hier wird am 20. Dezember 2010 um 12.05 Uhr Helene S., 79 Jahre alt, brutal überfallen. Der Täter reißt die Rentnerin zu Boden, raubt ihre Handtasche. Die alte Dame fällt wenige Stunden später ins Koma. Am 17. Januar 2011 stirbt sie an den Folgen des Überfalls. Damit die brutale Tat nicht in Vergessenheit gerät, haben die Hohenhorster jetzt ein Gedenkkreuz am Tatort aufgestellt. Sie haben Primeln gepflanzt und Rosen niedergelegt. Sie haben Kerzen angezündet und innegehalten, um zu zeigen, dass Gewalt keinen Platz in ihrem Ortsteil haben darf. "Wir dürfen nicht wegschauen", sagt Westphal.

Es ist der 20. Dezember 2010 um 12.05 Uhr, vier Tage vor Heiligabend. Helene S. hat den Vormittag in Farmsen verbracht. Sie hat Geschenke besorgt, Parfüm und Duschgel für die Freundinnen ihrer Enkelsöhne. Gegen halb zwölf steigt sie in den Bus der Linie 27. Eine Viertelstunde dauert die Rückfahrt, vorbei am Studio Hamburg, dem Jenfelder Einkaufszentrum bis zum Berliner Platz. Die Rentnerin steigt aus, überquert die Schöneberger Straße, schlendert vorbei am Rewe-Markt in die Charlottenburger Straße. Tausende Male ist sie diesen Weg zu ihrer kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung im Krontaubenstieg schon gegangen. Im Sommer legt sie die Strecke mit ihrem Fahrrad zurück. Helene S., die im Freundeskreis nur Leni genannt wird, ist agil und gern an der frischen Luft. Seit 51 Jahren lebt die Rentnerin in Hohenhorst. Hier fühlt sie sich wohl und sicher. Sie schätzt das viele Grün vor ihrer Haustür und die ruhige Lage des Stadtteils. Helene S. wählt entgegen ihrer Gewohnheit die linke Straßenseite. Hier ist der Fußweg von Schnee und Eis geräumt. Sie geht vorbei an der Hausnummer 77, in der einen Hand ihre Einkäufe, über der Schulter die Handtasche. Plötzlich wird sie von hinten angegriffen. Ein Mann reißt sie zu Boden, raubt ihre Handtasche und läuft in Richtung Berliner Platz davon. Schwer verletzt liegt Helene S. auf dem Asphalt. Zwei Passanten finden die alte Dame, alarmieren den Krankenwagen. Da ist Helene S. noch bei Bewusstsein. Sie spricht von einem Überfall, davon, dass ihr 70 Euro geklaut worden sind. Und dass ein Mann sie angegriffen habe. Wenige Stunden später fällt sie ins Koma. Vier Wochen später erliegt sie ihren schweren Verletzungen.

Die Ermittler haben bis heute keine Spur. 1000 Euro hat die Polizei als Belohnung ausgesetzt. Hubert S., der Sohn des Opfers, hat noch einmal die gleiche Summe draufgelegt. Doch es hat sich kein Zeuge gemeldet. "Ich möchte, dass der Täter weiß, was er angerichtet hat", sagt Hubert S. "Auch wenn er diese Tat so sicherlich nicht geplant hat." Er ist sich sicher, dass seine Mutter die Handtasche freiwillig losgelassen hätte, wäre sie nicht rücklings überrascht worden. "Sie hätte sich nicht gewehrt, sondern gesagt: 'Hier, nehmen Sie schon.'"

Zur Gedenkveranstaltung ist Hubert S. nicht erschienen. "Er kann das nicht", sagt seine Frau. Sie nimmt die Beileidsbekundungen vor dem Haus Nummer 81 allein entgegen. Sie sagt: "Jeder Mensch hat nur ein Gastspiel auf der Erde. Aber so zu sterben, das hat meine Schwiegermutter nicht verdient." Eine halbe Stunde dauert die Veranstaltung, dann löst sich die Menschentraube auf. Im Schatten der Hausnummer 81 bleiben das Kreuz zurück, die Blumen und die Kerzen. Damit niemand vergisst, was hier geschehen ist. Mitten am helllichten Tag. Am Freitag wird Helene S. auf dem Rahlstedter Friedhof beigesetzt.