Obst und Gemüse vom Hamburger Großmarkt haben meist weite Wege hinter sich. Eine Nachtschicht zwischen Papaya und Paprika.

Hamburg. Emin Doganays dunkle Augenringe sind nicht zu übersehen. Sie sind in seinem Berufsstand eine Art Visitenkarte. Am Abend ist Doganay auf der Ostseeinsel Usedom losgefahren, an Rostock und Lübeck vorbei nach Hamburg, stundenfressende 320 Kilometer. Gegen ein Uhr morgens wandert der Türke durch die Gänge des Großmarktes im Herzen der Hansestadt. Vorbei an Kisten mit Salat, Äpfeln, Papayas, an Körben mit Ingwerknollen und Mohrrüben. Neonröhren unter dem Kuppeldach tauchen das Marktgeschehen in grelles Licht. Doganay weicht einem surrenden Elektrogabelstapler aus, der eingeschweißte Paletten lädt. Seine Einkaufsliste umfasst mehrere Seiten, das kann Stunden dauern. Wenn er gegen neun Uhr in seinen Großhandel nach Usedom zurückkommt, werden seine Augenringe noch dunkler sein.

Emin Doganay, 46, ist einer von 4000 regelmäßigen Einkäufern auf dem Hamburger Großmarkt. Sie sorgen dafür, dass jährlich 1,5 Millionen Tonnen Obst, Blumen und Gemüse ihren Weg zu 15 Millionen Verbrauchern finden - in ganz Norddeutschland, aber auch West-Polen und Dänemark."Ich könnte auch zum Berliner Großmarkt fahren, das wären 100 Kilometer weniger", sagt Doganay. "In Hamburg gibt es aber mehr und bessere Produkte." Im Sommer, wenn die Ostseeinseln voll sind mit Touristen, fährt er die Strecke an sechs Wochentagen, im Winter an drei. Pro Nacht gehen auf dem 28 Hektar großen Gelände Waren für durchschnittlich 6,4 Millionen Euro über die Verkaufstresen - das macht zwei Milliarden Euro Umsatz pro Jahr.

Geld hin oder her, mit einer Erkältung macht es wenig Spaß, die Nacht in einer zugigen Markthalle zu verbringen. Christian Ehmann ist nach dem Zwiebelprinzip in vier Fleeceschichten eingepackt, die Füße stecken in dick besohlten Gummischuhen. 1962, als die Stadt Hamburg den Großmarkt am Klostertor zwischen Oberhafen und Amsinckstraße baute, leitete noch sein Opa den Stand. Seitdem hat sich der Früchtehandel globalisiert: Die 470 Großmarkthändler importieren aus mehr als 50 Ländern, vor allem das Obst legt weite Wege zurück. Nur sieben Prozent davon stammen aus deutschem Anbau, bei Gemüse sind es immerhin 53 Prozent. Auch Ehmann und seine zehn Mitarbeiter haben sich auf exotische Produkte spezialisiert. Papaya aus Brasilien, Chili aus Thailand, Spargel aus Peru, Birnen aus China. Auch Physalis, Litschi und Ingwer liegen in den Kisten. "Exotische Früchte halten sich besser und haben eine größere Gewinnspanne", sagt Ehmann schniefend. Der Großteil seiner Ware kommt per Flugzeug nach Deutschland. Das ist zwar um ein Vielfaches teurer, aber auch hochwertiger: "Der Geschmack von Schiffsobst, das schon Wochen gelegen hat, ist mit Flugware überhaupt nicht zu vergleichen." Trotzdem, mit Klischees räumt Ehmann gnadenlos auf. "Die Illusion, auf dem Großmarkt gäbe es nur frische Ware, ist Quatsch - die Kiwis wurden zum Beispiel schon im Oktober geerntet, und der Ingwer ist noch älter." An seinem Verkaufstresen glüht ein Heizlüfter vergeblich gegen die Kälte an, daneben hängt ein Kalender mit leicht bekleideten Frauen. Der Großmarkt ist eine Männerdomäne. Der Ton ist rau, aber herzlich, man duzt sich. Die meisten Ehefrauen bleiben zu Hause und machen die Buchhaltung.

Das Nachtleben im Großmarkt beginnt um Mitternacht, wenn die Händler ihre Ware aufbauen. Die ersten Besucher sind jene, die von weit her kommen wie Emin Doganay. Der Geräuschpegel hebt sich, wenn die ersten Geschäfte gemacht sind, Paletten auf den Steinboden knallen und mit elektrobetriebenen Gabelstaplern zu den Lastwagen gebracht werden. "Ab zwei Uhr tauchen meist die Wochenmarkthändler auf, ab fünf Uhr dann die Besitzer von Gemüsefachgeschäften", sagt Großmarkt-Sprecherin Michaela Grangladen. Während die Discounter längst ihre eigenen Einkaufsstrukturen pflegen, lassen Unternehmen wie Schiffsausrüster oder Altenheime sich zunehmend direkt vom Großmarkt beliefern.

Dafür sind die im internen Sprachgebrauch Kellerkinder genannten Dienstleister zuständig. 20 Unternehmen haben ihre Büros in niedrigen Gängen unter der Markthalle, noch tiefer gelegen als die Kühlräume und Elektrotankstellen. Wolfgang Plichta hat um 1.30 Uhr angefangen, die Bestellungen zu sichten. Sein Arbeitgeber, die Firma Hans Grell, beliefert Kindergärten, Altenheime und Schiffsausrüster, die wiederum die Kombüsen auf Containerschiffen füllen.

Ein Stapel eingeschweißter Kartoffeln wartet im Gang darauf, in einen Sprinter verladen zu werden. Sie sind nicht nur geschält, sondern in Würfel und Scheiben geschnitten, um sich in einer Großküche flugs in Bratkartoffeln und Eintopf zu verwandeln. Den Rest der bestellten Ware wird Plichta oben bei den Händlern kaufen. "Wir sind der Markt im Markt", erklärt Plichta, ein freundlicher Mann mit blauen Augen und vor Kälte geröteter Nase. Der Schleswig-Holsteiner arbeitet seit 30 Jahren auf dem Großmarkt, es macht ihm immer noch Spaß. Als sein früherer Arbeitgeber pleiteging, stellte ihn sofort ein Konkurrent ein.

Gegen vier Uhr morgens hat Emin Doganay endlich den letzten Posten auf seiner Einkaufsliste abgehakt. Gemeinsam mit seinem Kollegen wird er sich auf den Sattelschlepper schwingen und die Heimfahrt gen Osten antreten. Dort werden seine 15 Mitarbeiter anpacken, um die Waren aus Hamburg an 300 Hotels zwischen Rügen und Usedom auszuliefern. Gegen 15 Uhr hat Doganay dann endlich Zeit, sich ein paar Stunden hinzulegen. Bevor es wieder losgeht nach Hamburg.

"Ich habe schon immer wenig geschlafen, das ist eine Sache des Trainings", sagt der Unternehmer. Seine beiden Söhne, 15 und 16 Jahre alt, haben bislang kein Interesse bekundet, den Inselgroßhandel eines Tages weiterzuführen. Sie wollen lieber Sportmanager und Polizist werden.