Eine Glosse von Sven Stillich

Heute Morgen im Bus: Viele Fahrgäste stehen, die meisten sitzen, ein paar lesen die Zeitung des Tages. Einer der Stehenden blickt über den Hinterkopf eines Sitzenden auf die Titelseite der "Mopo" und muss schmunzeln. Einer der Sitzenden liest die Rückseite der "Bild"-Zeitung, die sein dahinter verstecktes Gegenüber vor ihn hält. Der Passagier hinter dem Mitlesenden kann noch die Schlagzeilen der "Bild" erkennen - die Überschriften sind groß genug. Ein anderer Fahrgast liest das Hamburger Abendblatt mit, das seinem Sitznachbarn gehört. So ist das morgens in Bus und Bahn. So wird das in ein paar Jahren leider nicht mehr sein. Dann, wenn die meisten von uns ihre Tageszeitung nicht mehr auf Papier lesen, sondern auf einem Bildschirm, einem Handy zum Beispiel oder auf Minicomputern wie dem iPad. Dann ist Schluss mit dem gemeinsamen Lesen. Denn erstens haben die Geräte keine Rückseite, und zweitens sind Artikel darauf viel zu schnell weggeklickt, als dass man beim Nachbarn mit über Texte huschen könnte. Gedrucktes bleibt (außer, der Nachbar steigt aus).

Verschwinden werden auch Sätze wie "Hey, kaufen Sie sich doch 'ne eigene Zeitung!" und "Ich klau Ihnen schon keine Buchstaben!". Jahrhundertealte Kulturtechniken verschwinden. Also, nutzen Sie die Zeit, die Sie bis dahin noch haben: Falls Sie gerade im Bus sitzen, fragen Sie bitte Ihren Sitznachbarn ganz nett, ob er mit dem Lesen dieser Glosse auch fertig ist.