Abendblatt-Gerichtsreporterin Bettina Mittelacher schreibt jede Woche über einen außergewöhnlichen Fall.

Neustadt. "Hinterher ist man immer schlauer." Hartmut F. spricht diesen oft strapazierten Satz mit einem Seufzer, voller Inbrunst, schwermütig geradezu. Der Mann weiß nur zu gut, wie viel bittere Wahrheit in diesen Worten steckt, er hat sie mit Wucht um die Ohren gehauen bekommen, in der denkbar schlimmsten Variante. Denn wenn er vorher schlau gewesen wäre, wenn er alles so gemacht hätte, wie es sein sollte, wäre nicht ein Mann zu Tode gekommen, wäre dieser nicht von einem tonnenschweren Fahrzeug überrollt und zerquetscht worden. Er würde noch leben, dieser Mann, von dem ein Bekannter erzählt, was für ein fröhlicher Mensch er war, nett und lieb. Ein Mann, der nur 44 Jahre alt wurde.

Hartmut F. ist lediglich zwei Jahre älter, doch der Kummer über die verhängnisvollen Ereignisse von vor einem Jahr hat deutliche Spuren bei ihm hinterlassen. Eine sorgenvolle Miene, dazu eine Körperhaltung ohne Spannkraft, eine matte Stimme. So sitzt der Kraftfahrer als Angeklagter vor dem Landgericht und ringt darum, dass seine Schuld am Tod eines anderen Menschen als möglichst gering eingestuft wird. Fahrlässige Tötung wird dem Mitarbeiter der Stadtreinigung vorgeworfen, weil er am 6. Januar vergangenen Jahres als Fahrer eines Müllwagens der Stadtreinigung auf dem Gelände der Alsterdorfer Anstalten beim Rückwärtssetzen einen Mann überrollt hatte. Vor dem Amtsgericht war er deswegen zu einer Geldstrafe von 150 Tagessätzen à 20 Euro verurteilt worden. Jetzt wird der Fall in zweiter Instanz neu aufgerollt, weil Hartmut F. dagegen Berufung eingelegt hat. Es scheint indes weniger die Strafe zu sein, die auf ihm lastet, als sein Gewissen. "Wenn ich es rückgängig machen könnte", seufzt der stämmige Angeklagte, "würde ich es tun."

Über Monate war der Müllwerker nach den fatalen Ereignissen nicht in der Lage, seinen Beruf auszuüben, und erlitt zudem einen Herzinfarkt. "Die ersten Wochen nach dem Unfall waren ganz extrem", erzählt Hartmut F. jetzt vor Gericht. "Ich habe mir wochenlang den Kopf zermartert, wo der Mann plötzlich herkam, und ich frage mich das auch heute noch." Wenn er den Fußgänger, der wegen einer leichten geistigen und körperlichen Behinderung mit einem Gehwagen unterwegs war, gesehen hätte, "hätte ich natürlich gebremst". Laut Amtsgerichts-Urteil hatte der Kraftfahrer indes die gebotene Sorgfaltspflicht nicht eingehalten. Er habe beim Rückwärtssetzen einen Monitor, der den Bereich hinter dem Fahrzeug zeigt, nicht durchgehend beachtet und zudem sich entgegen den Vorschriften nicht einweisen lassen.

"Es ist so, wie es im Urteil steht, nur das mit dem Monitor, das ist nicht richtig", klammert sich der vierfache Vater jetzt an einen Strohhalm, von dem er hofft, er könne seine Verantwortung für den tödlichen Unfall abmildern. An jenem Tag hätten er und seine Kollegen außerplanmäßig den Auftrag bekommen, drei Müllcontainer auf dem Gelände der Alsterdorfer Anstalten zu leeren. Auf der Suche nach den Containern habe er den Wagen nach einem Halt von wenigen Minuten einige Meter zurückgesetzt, um besser in einen Seitenweg blicken zu können. Er habe zwar von der Vorschrift gewusst, dass er sich beim Rückwärtsfahren einweisen lassen müsse. "Zweimal im Jahr gibt es bei uns Schulungen", da werde auch dieses Thema behandelt. "Aber wir sind doch nur ganz langsam zurückgerollt, maximal eine Wagenlänge, um besser gucken zu können, und nicht, um aufzuladen", versucht Hartmut F. eine Rechtfertigung. Auch ein Kollege von ihm argumentiert als Zeuge, sie hätten nur "ganz wenig zurücksetzen" wollen.

Doch beim Rückwärtsfahren "muss einer hinten stehen, ohne Ausnahme", betont ein anderer Kollege, der bei dem Unfall mit im Wagen gesessen hatte. Warum weder er noch ein dritter Müllwerker eingegriffen haben, als der Fahrer es versäumte, diese Vorschrift einzuhalten, "kann ich nicht sagen", meint er achselzuckend. "Es war Dreckswetter, wir waren in Gedanken schon beim Feierabend, wir waren sowieso spät dran - ich weiß es nicht." Damit habe er unbewusst drei mögliche Erklärungen genannt, kommentiert der Richter trocken.

Er und seine Schöffen teilen nach der Beweisaufnahme die Überzeugung des Amtsgerichts, verwerfen die Berufung und bestätigen damit die Verurteilung wegen fahrlässiger Tötung und die Geldstrafe von 3000 Euro. Es sei ein "schicksalhafter, ein tragischer Tag gewesen", sagt der Richter in der Urteilsbegründung. "Ein relativ geringes Verschulden" komme mit dem Verlust des "höchsten menschlichen Gutes, des Lebens, zusammen". Tatsächlich stehe für das Gericht jedoch außer Frage, dass der Unfall "ganz einfach" hätte vermieden werden können, wenn Hartmut F. sich an die Bestimmungen gehalten hätte, Vorschriften, die "bitter überlebensnotwendig" seien. "Dass man mit diesem gefährlichen Monster jemanden im toten Winkel überrollen kann, ist ein allgegenwärtiges Gefahrenmoment."