Aufschwung am Arbeitsmarkt? Viele Hartz-IV-Empfänger spüren davon nichts. Das Abendblatt schaute sich im Harburger Jobcenter um.

Hamburg. Auf dem Empfangstresen im Jobcenter Harburg liegt eine Liste von Besuchern mit Hausverbot. 35 Namen stehen darauf, einige weiblich, viele klingen ausländisch. Die meisten haben wegen Fehlverhaltens nur einen Monat Hausverbot, ein paar auch unbefristet. Dabei sind die 167 Beschäftigten im Harburger Jobcenter hart im Nehmen. "Von Schimpfwörtern lassen wir uns nicht beeindrucken", sagt ein Empfangsmitarbeiter. "Aber wenn einer brüllt, ,ich hab ein Messer und draußen mache ich dich kalt', dann ruft man doch lieber die Polizei."

Wann die schwierigen Besucher auftauchen, ist für die Mitarbeiter leicht vorhersehbar. Ist das Wetter schlecht oder nähert sich der Monat seinem Ende, dann ebbt die Flut der Langzeitarbeitslosen ab. Beginnt ein neuer Auszahlungszeitraum, drängen sich die Besucher in den zitronengelb gestrichenen Fluren, die Schlange am Empfangstresen reicht oft bis zum Fahrstuhl. Sie alle kennen die Regeln, die am Eingang des Jobcenters in der Harburger Innenstadt angeschlagen sind: keine Drogen, keine Hunde, nicht pöbeln oder handgreiflich werden. Nicht alle halten sich daran, wie die Liste auf dem halbrunden Empfangstresen aus Holzimitat belegt.

Allein in Harburg leben 300 arbeitslose Alleinerziehende unter 25 Jahren

Der hin und wieder raue Ton ist aber nicht das größte Problem in den insgesamt 16 Jobcentern in Hamburg, die die Hartv-IV-Empfänger betreuen. Das größte Problem sind die Warteschlangen an sich. Denn sie wollen einfach nicht kürzer werden - trotz des öffentlichen Jubels über sinkende Gesamtzahlen bei den Arbeitslosen, in Hamburg zuletzt auf offizielle 69 190.

Die nach wie vor langen Schlangen in den Jobcentern werfen aber ein grelles Schlaglicht auf das Problem der strukturellen Arbeitslosigkeit in der Hansestadt: Im November lebten rund 98 500 arbeitsuchende Hamburger über 15 Jahre von der Grundsicherung - inoffiziell Hartz IV, offiziell Arbeitslosengeld II genannt. Nur die Hälfte davon gilt als arbeitslos, die andere Hälfte als arbeitsuchend - weil die Menschen in Ein-Euro-Jobs oder Weiterbildungen geparkt sind, Zuschüsse zur Existenzgründung erhalten oder krank sind. Der Knackpunkt: Die Gesamtzahl dieser Hartz-IV-Empfänger verringerte sich im Vergleich zum Vorjahr nur minimal um 0,2 Prozent. Die Schlangen in den Agenturen für Arbeit, wo die meist gut qualifizierten Bezieher von Arbeitslosengeld I betreut werden, verkürzten sich hingegen massiv, allein im November um 14 Prozent. So kommt es, dass der Anteil der Hartv-IV-Empfänger an den Hamburger Arbeitslosen bereits mehr als zwei Drittel ausmacht - mit steigender Tendenz. 1,29 Milliarden Euro mussten Bund und Stadt im Jahr 2009 für Regelsatz, Unterkunft und Integrationsmaßnahmen aufbringen.

Und die Aussichten sind trübe: "Der Aufschwung verschafft auch unseren Kunden Arbeit, sie verlieren sie aber schneller wieder", sagt Jürgen Schlenker, Chef des Jobcenters Harburg. Der Grund: Der Großteil hat keine Ausbildung, viele nicht einmal einen Schulabschluss. Andere sprechen kaum Deutsch, sind alleinerziehend, leiden unter körperlichen oder psychischen Problemen. Allein im Bezirk Harburg ist fast jeder Dritte Ausländer, sind 300 der Alleinerziehenden unter 25 Jahre alt. Das Jobcenter Harburg ist für sie die letzte Auffangstation im sozialen Netz.

Björn Richter wiegt 180 Kilo und lebt seit zehn Jahren vom Staat

Einer der knapp 14 000 Menschen, die immer wieder am Empfangstresen auftauchen, ist Björn Richter*. Für seinen Arbeitsvermittler Michael Zeisset ist Richter ein typischer Fall: Anfang 30, 180 Kilo Körpergewicht, keine Ausbildung, lebt seit einem Jahrzehnt von Sozialleistungen. Zeisset geht davon aus, dass das massive Übergewicht das größte Hindernis für eine langfristige Anstellung ist. Deshalb soll Richter abnehmen, bevor er sich auf einen Ausbildungsplatz bewerben kann.

"Haben Sie denn schon Gewicht verloren, so wie wir es beim letzten Gespräch vereinbart haben?", will Zeisset wissen. Sein Büro ist gut geheizt, zwei Palmen und bunte Poster an den Wänden vermitteln eine wohnliche Atmosphäre. Richter berichtet stolz von 20 Kilo Gewichtsverlust seit September, er gehe jetzt jeden zweiten Tag spazieren. "Respekt!" Zeisset pfeift anerkennend. "Ich kann Ihnen als Beweis gern die Hose mitbringen, die mir schon viel zu groß ist", bietet der Arbeitslose an. Das Gespräch endet mit einer schriftlichen Vereinbarung, dass Richter in zwei Wochen ein ärztliches Attest über den Diätfortschritt vorlegen soll.

Dass die Arbeitslosen im Jobcenter als "Kunden" bezeichnet werden, ist Strategie. Michael Zeisset und seine Kollegen begreifen sich nicht nur als Arbeitsvermittler, sondern auch als Pädagoge, Psychologe, Motivator und Mahner. Jobcenter-Chef Jürgen Schlenker war selbst jahrzehntelang Sozialarbeiter und achtet bei seinem Personal auf Menschenkenntnis: Viele sind zwar gelernte Verwaltungsangestellte, Quereinsteiger wie Michael Zeisset sind aber gern gesehen. Der Buxtehuder ist Sozialwissenschaftler, hat in Medien und Erwachsenenbildung gearbeitet und fünf Jahre in Frankreich gelebt. "So kann ich gut nachvollziehen, wie wichtig zum Beispiel die Sprache für eine gelungene Integration in Gesellschaft und Arbeitsmarkt ist", sagt Zeisset.

Eine deeskalierende Gesprächsführung ist auch im Kontakt mit den Jobsuchenden Voraussetzung. Die Arbeitsvermittler loben und kritisieren, sie gehen auf persönliche Probleme der Arbeitslosen ein, sprechen in den bis zu einstündigen Gesprächen aber auch Machtworte. Sie entwerfen die Strategie, mit der ihr Kunde einen Job im ersten Arbeitsmarkt bekommen und behalten soll. Sie entscheiden über Bewerbungen, Weiterbildungen, Ein-Euro-Jobs. Sie müssen einschätzen, wer will, aber nicht kann, und wer kann, aber nicht will. "Wir können viel Unterstützung geben, letztlich entscheidend ist aber die Motivation der Jobsuchenden", sagt Zeisset, 46.

Und die ist ebenso unterschiedlich wie die Arbeitslosen selbst. Es gibt Familien, die in dritter Generation staatliche Hilfen erhalten. Andere bringen ihre Kinder bis zum Abitur. Einige sehnen sich nach einer sinnvollen Beschäftigung, andere sehen die Arbeitsvermittlung als kostenlose Flirtbörse - in den Wartezonen wurde schon der Grundstein für Ehen zwischen Harburger Langzeitarbeitslosen gelegt. Manche brechen in Tränen aus, wenn ihr Geld gekürzt wird, weil sie etwa einen Termin im Jobcenter versäumt oder sich nicht wie vereinbart beworben haben. Andere nehmen Kürzungen stoisch hin. "Ich habe schon Kunden auf null sanktioniert und sie regen sich trotzdem nicht", erzählt Arbeitsvermittlerin Catrin Haehnert, 42. Dann wird auch mal der Zoll eingeschaltet, der wegen Verdachts auf Schwarzarbeit ermittelt.

Die Mitarbeiter der Leistungsabteilung kennen die gängigen Tricks

Wenn es laut wird, dann meistens im Stockwerk über den Arbeitsvermittlern. Hier berechnen 66 Mitarbeiter der Leistungsabteilung, wie viel Geld den Arbeitslosen jenseits der 359 Euro Regelsatz zusteht. Sie bearbeiten Anträge auf neue Waschmaschinen, begutachten Mietverträge, Wasserrechnungen und Geburtsurkunden. Eine von ihnen ist Sandra Dürre, 40, die schon ihr halbes Leben mit Hilfsbedürftigen arbeitet, früher im Harburger Sozialamt, jetzt im Jobcenter. Sie kennt die Leidensgeschichten und Schicksale, aber auch die Lügen und Tricks.

So verzieht Dürre keine Miene, als die Harburgerin Jana Winkelmann* beteuert, der Stromversorger Vattenfall habe vor der Mahnung nie eine Rechnung geschickt. Die junge Frau trägt einen Wollschal und grellpinken Lidschatten, hält eine nietenbesetzte Handtasche auf dem Schoß. Sie ist aufgeregt. "Die wollen auf einmal 400 Euro von mir - wovon soll ich das bezahlen?" Sandra Dürre überfliegt die Mahnung und beruhigt: "Ich lasse mir das von Vattenfall bestätigen und überweise die Summe dann sofort, damit Ihnen der Strom nicht abgestellt wird." In diesem Fall nutzt sie ihren Entscheidungsspielraum zugunsten von Jana Winkelmann, die mit kleinen Kindern allein lebt. Den Großteil der Rechnung übernimmt das Jobcenter als Heizkosten ohnehin, weil mit dem Strom die Nachtspeicherheizung betrieben wird. Den Rest gewährt Dürre als Darlehen, das ab Januar in Raten zurückgezahlt werden soll.

In Notfällen können die Leistungssachbearbeiter auch Bargeld ausgeben, das über eine Karte am Kassenautomat ausgezahlt wird. Der steht im Eingangsraum des Jobcenters Harburg am Empfangstresen. Daneben ist ein Wachmann postiert. Sicher ist sicher.

* Name geändert