Oscar Rodriguez Maradiaga, 67, ist Präsident von Caritas International.

1. Hamburger Abendblatt:

Vor knapp einem Jahr war das große Beben in Haiti. Reichen die Spenden aus Deutschland und den anderen Ländern?

Oscar Rodriguez Maradiaga:

Generell gab es ausreichend Hilfe anlässlich des schrecklichen Erdbebens. Allein Caritas International hat bisher mit mehr als 350 Millionen Euro in Haiti geholfen. Dennoch herrschen nach wie vor die Not vor allem in Port-au-Prince vor, wir haben mit Schmerzen das Ausbrechen der Cholera-Epidemie erlebt. Die Schwäche der Regierung im organisatorischen Bereich hat die Umsetzung der Wiederaufbauprojekte erschwert.

2. Warum sind in Haiti trotz großer Spendenhilfe immer noch nicht einmal die größten Schutthaufen beseitigt?

Maradiaga:

Es gibt weder Organisation noch Koordination durch den Staat, und es fehlt auch ein Generalplan für den Wiederaufbau.

3. Was muss geschehen, um den Haitianern jetzt noch wirkungsvoll helfen zu können?

Maradiaga:

Das Beste wäre, wenn die neu gewählte Regierung auf internationale Hilfe und Unterstützung bauen könnte, damit sich die Haitianer selbst organisieren können. Die Probleme müssen von den Haitianern selbst gelöst werden.

4. Könnte die katholische Kirche mehr Not verhindern, wenn sie sich bei Unrecht stärker in die Politik armer Länder einschalten würde?

Maradiaga:

Die Kirche muss sich stets in Fragen der Gesellschaft einmischen, natürlich mit unterschiedlichen Rollen für den Klerus und die Laien. Die Bischöfe sollen Orientierung und Wegweisung geben mittels der katholischen Soziallehre, und die Laien müssen ihre Rolle erfüllen zum Beispiel in der Mitarbeit in den politischen Parteien.

5. Können Christen mehr tun als spenden, um die größte Not in der Welt einzudämmen?

Maradiaga:

Ich glaube ja. Christen müssen ihre Stimme da hörbar machen, wo Entscheidungen getroffen werden, die alle betreffen. Das Schweigen kann zum Komplizen der Ungerechtigkeit werden. Trennung zwischen Kirche und Staat bedeutet nicht Feindschaft, die Menschen sind ja Angehörige von beidem. Internationale Institutionen können christliche Werte wie Sozialethik und Gerechtigkeit nicht ignorieren.