Die 78-Jährige geht einen Weg wie viele alte Menschen: Sie zieht in eine Senioren-Wohnung, trennt sich von Vergangenheit und denkt nach.

Noch drei Wochen: Henriette Marcussen* sitzt auf einem grünen Sessel aus Alcantara in ihrem Wohnzimmer. Sie hat Nusskekse gebacken und Kaffee gekocht. Sie ist 78 Jahre alt und lebt in einem Genossenschaftshaus in Nienstedten. Ihre 72-Quadratmeter-Wohnung im ersten Stock hat ein Wohnzimmer, ein daran angrenzendes Esszimmer, ein Schlafzimmer, Küche, Bad, Vorratsraum und einen ausgebauten Dachboden. Es riecht nach alten Möbeln.

"Das erste Mal bin ich 1950 umgezogen. Meine Eltern haben mich von Nordstrand zum Arbeiten nach Hamburg geschickt. Ich war eine sehr attraktive junge Frau. Ich bekam eine Stelle bei Doktor Schröder an der Conzestraße. Er war Diplomingenieur, 50 Jahre älter als ich. Ich war seine Wirtschafterin. Er war wie ein Großvater zu mir. Ich war ja die kleine Maus von der Insel. Doktor Schröder ist mit mir verreist, in die Oper gegangen und in tolle Restaurants. 1965 habe ich dann das erste Mal geheiratet und bin wieder ausgezogen. Zehn Jahre hielt die Ehe. Mein Mann war ein Trinker, ein Spieler. Ich habe dann noch einmal geheiratet. Mein zweiter Mann hatte seine erste und seine zweite Frau verloren, er war allein mit drei Kindern. Ich habe sie aufgefangen. Wir waren eine glückliche Familie. Mein Mann war der Friedhofsverwalter von Nienstedten. Und ich arbeitete in der Verwaltung mit. 1980 sind wir hier ins Erdgeschoss gezogen, nach dem Tod meines Mannes 1988 bin ich dann in den ersten Stock."

Henriette Marcussen geht zwei Schritte zum Fenster und schaut hinaus in den Garten. Sie hat ihn selbst angelegt und auch dann noch gepflegt, als sie aus der unteren Wohnung auszog. Mittlerweile kümmert sich die Nachbarin von unten um die Pflanzen. Irgendwo hinter dem Garten liegt die Elbchaussee.

"Früher gab es hier in Nienstedten noch Feldwege, Häuser mit Strohdächern und Bauern. Jeder hatte einen Schuppen und ein Schwein darin. Jetzt grenzt man sich ab. Die Leute lassen die Bäume und Hecken wachsen. Sie arbeiten den ganzen Tag und reden kaum noch miteinander. Ich brauche die Ansprache. Meine Freunde sind fast alle tot. Im vergangenen Jahr war ich sehr krank. Streptokokken - ich weiß immer noch nicht, was das ist. Hat mir ja auch keiner gesagt. Ich bekam Medikamente - und bin explodiert danach. Dann habe ich die Tabletten abgesetzt und war gesund. Da habe ich mir gesagt: Jetzt muss was geschehen. Ich ziehe um."

Allerdings werden nicht alle Möbel mit umziehen. Frau Marcussen geht zu ihrem Esstisch.

"Den kann man ausziehen. Wir hatten immer viele Leute im Haus. Ich konnte locker 30 Gäste bewirten. Bei uns wurde getanzt. Mein Mann war ein Tänzer vor dem Herrn. Spanish Eyes! Walzer! Ich konnte die ganze Nacht Walzer tanzen."

Sie holt ein Fotoalbum hervor, zeigt Bilder ihres Gatten. Ein stattlicher Mann, der offenbar gern gesungen hat und auf jedem Foto lacht.

"Er war im Turnverein, bei den Jägern, und er war Chef vom Bläserchor. Sein Schifferklavier hatte er immer im Kofferraum. Was für ein verrückter Kerl! Manchmal sagte er zu mir: ,Heute lassen wir die Puppen tanzen.' Dann sind wir nach Berlin gefahren, haben im Palast-Hotel gewohnt und sind in die Oper gegangen. Ich habe es gut gehabt mit ihm."

Ihr Blick wandert zurück zum Tisch.

"Den verkaufe ich jetzt. In meine neue Wohnung passt er nicht. Für die Stühle, den Tisch und ein paar Lampen bekomme ich noch 50 Euro von einem Gebrauchtwarenkaufhaus. Ich habe auch meine Goldzähne verkauft, meinen Ehering, alles. Das ist gut, das Umzugsunternehmen kostet 829 Euro und 29 Cent. Das Einzige, was ich von meinem Mann mitnehme, ist sein altes Jagdhorn."

Sie geht durch den Flur in ihr Schlafzimmer. Rechts an der Wand steht ein riesiger Schrank, in der Mitte des Raumes ein französisches Bett. Beide Möbel sehen neu aus. Sie setzt sich auf das Bett und wippt auf und ab.

"Mein Bett, mein französisches Bett! Das habe ich mir in einem Anflug von Wahnsinn gekauft. Im vergangenen Jahr ist mein alter Kleiderschrank zusammengekracht. Da habe ich mir diesen Riesenschrank gekauft. Und dann sah ich dieses Bett. Teuer war das. Aber ich musste es kaufen."

Henriette Marcussen hat eine Checkliste gemacht und aufgeschrieben, was sie bis zum Umzug noch alles erledigen muss: Ihre neue Anschrift muss an die GEZ, die Fernsehzeitschrift, die Kirche, die Krankenkasse, die Bank, Versicherung und ans Ortsamt. Ihr Umzugsunternehmer hat ihren Haushalt auf 25 Kubikmeter geschätzt.

Noch vier Tage: Die Kartons sind da. Henriette Marcussen läuft nervös durch die Wohnung. Wenn sie sich hinsetzt, springt sie gleich wieder auf. Sie schüttelt häufig den Kopf, gestikuliert heftig, spricht sehr laut.

"Mir geht es schlecht. Ich kann kaum schlafen. Ich zahle jetzt 45 Euro für Strom im Monat. Meine neue Wohnung hat nur ein Zimmer, und ich soll plötzlich 72 Euro zahlen. Ich habe da angerufen. Doch da waren nur junge Leute dran, die haben mich abgewimmelt. Die saßen doch noch in den Windeln, als ich hier eingezogen bin. Wenn ich einen Mann hätte - und sei es noch so ein blöder -, dann würden die so was nicht mit mir machen."

Sie geht zum Bücherregal. Die Fächer hat sie nummeriert, die Bücher kommen in Kartons, die sie ebenfalls nummeriert. Sie nimmt Buch für Buch heraus, studiert den Klappentext, streicht über die Buchdeckel.

"Ah, der Opernführer. Den muss ich behalten. Ich geh zwar nicht mehr in die Oper, aber was soll's. Jetzt profitiere ich noch von den Erinnerungen. Außerdem mag ich die Oper heute auch nicht mehr so. Die hüpfen da ja halb nackt über die Bühne. Wenn ich Nackte sehen will, geh ich auf die Reeperbahn. Verdi mag ich, Strauss nicht. Wagner mag ich auch nicht. Den Ring anhören - da kriegt man ja Warzen am Hintern!"

Sie sortiert die ersten Bücher aus.

"Aha, ,Und weiter führt der Weg nach Westen'. Muss ich das noch haben? Nee. ,Liebe auf den letzten Blick' - nee, nicht mehr aktuell für mich."

Gestern war ihre Stieftochter da. Es kam zum Streit.

"Sie hat gesagt: Mach dies, mach das! Aber helfen wollte sie mir nicht. Die mit ihren klugen Ratschlägen. Jetzt will ich sie erst mal nicht sehen."

Henriette Marcussen packt die aussortierten Bücher in einen Jutebeutel, geht aus ihrer Wohnung, die Treppen hinunter, öffnet die Haustür. Sie wirkt sehr entschlossen. Die Papiertonne steht neben dem Eingang.

Umzug: Henriette Marcussen schläft immer noch schlecht. Seit drei Tagen ist ihre Freundin Christel aus Nordrhein-Westfalen da. Mehr als eine Woche lang will sie mithelfen. Mit Gebissreiniger haben die Frauen Glas-Karaffen gereinigt. Überall stehen voll gepackte Umzugskartons. Die Stiefkinder haben nicht geholfen. Zu viel zu tun. Henriette Marcussen schaut aus dem Fenster auf die Straße. Gerade ist ein Transporter vorgefahren, "Seniorenumzugsservice - sorgenfrei in Ihr neues Zuhause", steht auf dem Wagen. Es ist neun Uhr.

"Guck mal, Christel! Die sind ja sehr pünktlich. Ich kann mich richtig freuen, wenn ich so viele junge Leute seh."

Der Seniorenumzugsservice besteht aus drei Männern. Chef Michael Leppelt beschäftigt keine einfachen Packer, sondern Lehrer, Sozialpädagogen und Altenpfleger, die sich etwas dazuverdienen möchten. Leppelt ist selbst Sozialpädagoge. Die Männer fangen leise an zu arbeiten. Als zwei von ihnen das französische Bett auseinande nehmen, hebt Henriette Marcussen die Hände immer wieder auf und ab. Als wolle sie mit anpacken.

"Ich geh hier weg. Das kann ich nicht mit ansehen. Es gibt ja nichts Schlimmeres, als wenn man jemandem auf der Hacke steht."

Ein Helfer hängt den großen Spiegel ab.

"Geh ja mit meinem Spiegel gut um! Ihr könnt alles zerschlagen, aber nicht meinen Spiegel. Den hab ich in einer Galerie am Mundsburger Damm gekauft. Christel, schmeiß meine Krankenhaus-Akten weg! Die haben mich da vergiftet. Schmeiß das weg!"

Christel packt die Akte in ihre Tasche. Frau Marcussen setzt sich auf ihr grünes Sofa. Als die Helfer den Fernseher aus dem Schrank nehmen, fällt ein Buch über Fürstentümer auf den Boden. Frau Marcussen greift danach und schlägt es sofort auf.

"Ah, da ist ja Prinz Claus aus Holland. Der ist schon tot. Auf dem Foto sieht er alt aus. Wie kann ein Mensch nur so altern! Ich mag das nicht. Er war so ein schöner Mann. Hier in Nienstedten gab es früher so viele Männer von Format. Heute gehen sie gebückt, gestützt auf einen Rollator. Ich kann nicht hinsehen. Mein Mann war nie krank. Dann das Aneurysma. Weg war er. Er hat sich jedenfalls nicht zu quälen brauchen."

Von ihrer Wohnung in Nienstedten zur Senioren-Wohnanlage in Rissen sind es sieben Kilometer. Die Männer fahren mit dem Umzugswagen, die Frauen mit Christels Geländewagen. Die Wohnanlage wurde Frau Marcussen von einer Freundin empfohlen, die schon länger dort wohnt. Vor zwei Monaten hat Frau Marcussen den Mietvertrag unterschrieben: 521 Euro im Monat für 41 Quadratmeter.

Die Wohnung liegt im ersten Stock, es gibt keinen Fahrstuhl. Von der Eingangstür gelangt man in den Flur, von dem das Badezimmer abgeht. Durch den Flur kommt man in das großzügig geschnittene Zimmer, an dessen Seite die Einbauküche liegt.

Frau Marcussen hat Brote geschmiert. Mit dem Picknickkorb in der Hand läuft sie durch die leeren Räume. Es riecht nach frischer Farbe.

"Meine schöne Wohnung! 1500 Euro wollte der Maler für das neue Parkett, die Tapete und das Streichen haben. Aber was soll ich sonst mit dem Geld machen? Meinen Kindern überlassen? Es sind ja nicht mal meine leiblichen."

In den Küchenschränken stehen schon die Karaffen und die Champagner-Schalen, deren Klang Frau Marcussen so gerne hat.

"Ich hab kein Esszimmer mehr. Ich kann nicht mehr schön decken für viele Leute. Jetzt habe ich ein kleines Tischchen in der Küche. Da esse ich. Ich könnte auch unten in der Kantine der Altenresidenz essen. Da gibt es Mittag um halb zwölf. Aber ich geh doch nicht schon um halb zwölf essen. So alt bin ich nun auch wieder nicht."

Es gibt ein Problem: Das französische Bett und der Schrank passen nicht in die dafür vorgesehene Nische. Es blieben nur wenige Zentimeter Abstand. Henriette Marcussen schlägt mit der flachen Hand auf die Matratze.

"Dieses verfluchte Bett! Das ist mein Untergang! Ich mag es nicht mehr leiden."

Die Männer versuchen Frau Marcussen zu beruhigen. Sie sagen ihr, dass die Wohnung richtig schön aussehen werde, wenn erst einmal alles an seinem Platz steht. Sie tragen immer mehr Möbel herein. Den riesigen Schrank stellen sie mitten ins Zimmer, als eine Art Raumteiler.

"Meine Tochter hat gesagt, ich soll Bett und Schrank in die Nische stellen. Da kommst du schon vorbei, hat sie gesagt. Von wegen! Ich wollte den Schrank sowieso als Raumteiler haben. Da sollen meine Kinder noch so viel grölen. Dann brauchen sie gar nicht mehr zu kommen."

Es klingelt. Ein Mann, er wohnt im Erdgeschoss der Seniorenresidenz, kommt mit seinem Rollstuhl nicht an den Kisten vorbei, die im Eingangsflur stehen. Henriette Marcussen geht nach unten. Ihre dunkle Stimme hallt durchs Treppenhaus.

"Ich bin die Neue. Wohnen Sie hier ganz alleine? Ja? Dann alles Gute. Ich komm bald mal vorbei."

Sie kehrt in die Wohnung zurück.

"Schön, dass endlich mal jemand ,Guten Tag' sagt. Hier wohnen auch einige Männer. Ich hab ja nie mehr geheiratet. Einmal wollte ich. Ein Anwalt aus Lütjenburg. Aber seine Tochter, die hatte in Hamburg eine Boutique, war eine kleine blöde Zicke. Die hat mich ignoriert. Da habe ich zu dem Mann gesagt: ,Entweder du kommst nach Hamburg, oder es ist aus.' Dann war es aus."

Frau Marcussen kann sich im Altenstift erst einmal selbst versorgen. Medizinische Betreuung bekommt sie bei Bedarf. Sie geht zum Fensterbrett. Darauf liegt ein elektrisches Gerät mit einem Knopf.

"Das ist ein Pieper, ein Notfallgerät. Das müssen wir noch irgendwo anbringen. Ich soll auf den Knopf drücken, wenn ich halb tot bin. Dann tragen die mich hier raus."

Die Männer vom Seniorenumzugsservice sind um 21.30 Uhr fertig. Frau Marcussen und ihre Freundin Christel fahren in die alte Wohnung. Auf dem ausgebauten Dachboden steht noch Marcussens altes Ehebett, in dem die Frauen vorerst schlafen.

Tage später: Henriette Marcussen und Christel haben fast alle Kisten ausgeräumt. Jetzt lehnen nur noch Bilder an der Wand, die aufgehängt werden müssen. Der Fernseher läuft. Eine Nachmittags-Talkshow. Frau Marcussen steht vor dem Gerät und schimpft.

"Es ist die Pest! In meinem Fernsehbild schneit es. Immerhin geht das Telefon. Meine alte Nummer habe ich behalten. Noch hat es keiner gewagt, mich anzurufen."

Sie betrachtet das Regal, ihre Bücher darin. Das Jagdhorn ihres Mannes liegt in einer Vitrine. Wohlwollend schaut sie in ihre Schlafecke.

"Es ist eng, aber gemütlich. Meine Kinder können ja wegbleiben, wenn es ihnen nicht passt. Christel, wer hat noch mal gesagt: ,Nur der Schönheit widme ich mein Leben'? Lass dir das mal auf der Zunge zergehen!"

Sie öffnet den Kleiderschrank, sucht lange, dann findet sie ihr altes ärmelloses Abendkleid. Es ist beige und mit bernsteinfarbenen Pailletten besetzt.

"So sind wir früher ausgegangen. Da gehören eine braune Nerzjacke und lange Handschuhe zu. Das hat mir mein Mann vor 30 Jahren geschenkt. Ich konnte mich nicht davon trennen. Meine anderen Abendkleider habe ich an die Kleiderkammer verschenkt. Jetzt ist ein neuer Lebensabschnitt."

Sie holt jetzt auch noch ihren grünen Lodenmantel aus dem Schrank und setzt sich ihren Jägerhut auf.

"So! Ich bin die Schönste! Ich werde wieder besser aussehen. Wohnen mag ich hier jetzt schon. Ich habe keine Sehnsucht nach meiner alten Wohnung. Umziehen werde ich nicht mehr. Und wenn, dann mit den Füßen zuerst."

Nachtrag: In dieser Nacht wird Henriette Marcussen zum ersten Mal in ihrer neuen Wohnung schlafen. Sie wird gut schlafen können. In wenigen Tagen wird ein Techniker herausfinden, dass ein Fernsehkabel in der falschen Buchse steckt, danach ist das Bild scharf. Im nächsten Jahr will Henriette Marcussen Urlaub an der Ostsee machen.

* Name auf Wunsch geändert